Bundesverfassungsgericht

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Schleswig-holsteinische Landesregierung muss Landtagsabgeordneten Akten vorlegen

Pressemitteilung Nr. 44/2004 vom 22. April 2004

Beschluss vom 30. März 2004
2 BvK 1/01

Im Organstreit zwischen der Regierung des Landes Schleswig-Holstein und Abgeordneten des schleswig-holsteinischen Landtages über die Vorlage von Akten hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 30. März 2004 den Antrag der Landesregierung zurückgewiesen. Die Landesregierung ist infolgedessen verpflichtet, den Abgeordneten die verlangten Akten unverzüglich vorzulegen.

1. Zum Sachverhalt:

Die Antragsgegner - Mitglieder des Bildungsausschusses des schleswig- holsteinischen Landtages- hatten von der Landesregierung die Vorlage von Akten aus dem Verfahren der Aufstellung des Haushaltsentwurfs verlangt, um das Zustandekommen einer Deckungslücke von 35,1 Mio. DM im Landeshaushalt 2001 aufzuklären. Sie hegten Zweifel an der Erklärung, der Fehlbetrag beruhe im Wesentlichen auf dem Rechenfehler einer "armen Seele" im Kultusministerium. Die Landesregierung legte einige der Unterlagen vor. Die Vorlage eines Teils der verlangten Unterlagen verweigerte sie unter Berufung auf eine Bestimmung der Landesverfassung, nach der die Regierung es ablehnen kann, einem parlamentarischen Aktenvorlagebegehren zu entsprechen, "wenn die Funktionsfähigkeit und die Eigenverantwortung der Landesregierung beeinträchtigt werden" (Art. 23 Abs. 3 Satz 1 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein - LV). Um die Vorlage der von der Landesregierung bislang nicht herausgegebenen Unterlagen ging es in diesem Organstreitverfahren. Im Einzelnen handelte es sich um den Haushaltsvoranschlag des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur, den Entwurf des Ministeriums für Finanzen und Energie für den Haushalt des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur, die Haushaltsverhandlungsvermerke der beiden Ministerien und die Verhandlungsvermerke zur Nachschiebeliste.

Die Antragsgegner haben geltend gemacht, die Vorlage dieser Unterlagen sei zur Aufklärung der politischen Verantwortlichkeit für die aufgetretene Haushaltslücke erforderlich. Es gehe um die Frage, ob das ursächliche Fehlverhalten tatsächlich bei einer "armen Seele" im Kultusministerium oder nicht vielmehr auf höchster Ebene zu suchen sei. Ein Vermerk aus dem Ministerium für Finanzen und Energie, der sich bei den vorgelegten Aktenbestandteilen befunden habe, stütze die Vermutung, dass die wahre Ursache der Haushaltslücke das Nichtzustandekommen einer zwischen Finanzministerium und Bildungsministerium vereinbarten Rücklage sei, und dass für die fehlende Verfügbarkeit dieser Rücklage schon vor dem Abschluss des parlamentarischen Haushaltsverfahrens Anhaltspunkte bestanden hätten. Nach Auffassung der Landesregierung würde die Vorlage die Freiheit und Offenheit der Willensbildung innerhalb der Regierung und damit ihre Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung gefährden. Sie weist darauf hin, dass an den verlangten Unterlagen die regierungsinternen Durchsetzungserfolge und -misserfolge der beteiligten Ressorts erkennbar seien.

Dass im Streit über die Vorlage der Akten nicht die Antragsgegner Klage erheben mussten, um das geltend gemachte Aktenvorlagerecht durchzusetzen, sondern die Landesregierung sich an das Bundesverfassungsgericht wenden musste, um das Vorlagebegehren abzuwehren, beruht auf einer entsprechenden Sonderregelung in der Landesverfassung (Art. 23 Abs. 3 Satz 4 LV).

2. Zur Begründung hat der Zweite Senat im wesentlichen ausgeführt:

Art. 23 LV knüpft an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum "Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung" an.

Parlamentarische Informationsrechte in Bezug auf abgeschlossene Vorgänge scheiden nach dieser Rechtsprechung nicht grundsätzlich deshalb aus, weil es sich um Akten aus dem Bereich der Willensbildung der Regierung handelt. Ob die Vorlage solcher Akten die durch Art. 23 LV geschützte Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung der Regierung beeinträchtigen würde, lässt sich nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände feststellen.

Als funktioneller Belang, der durch eine Vorlagepflicht beeinträchtigt werden könnte, fällt bei abgeschlossenen Vorgängen vor allem die Freiheit und Offenheit der Willensbildung innerhalb der Regierung ins Gewicht. Auf der anderen Seite ist das Gewicht des parlamentarischen Informationsinteresses in Anschlag zu bringen. Besonders hohes Gewicht kommt dem parlamentarischen Informationsinteresse zu, soweit es um die Aufdeckung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb der Regierung geht.

Die erforderliche Abwägung fällt zugunsten des Informationsanspruchs der Antragsgegner aus.

Die Freiheit und Offenheit des interministeriellen Abstimmungsprozesses, der der Regierungsentscheidung über den Haushaltsentwurf vorgelagert ist, könnte durch die Verpflichtung zur Vorlage von Unterlagen aus diesem Abstimmungsprozess beeinträchtigt werden, wenn die dadurch ausgelöste Befürchtung eventueller späterer Publizität geeignet wäre, eine sachlich förderliche Kommunikation zwischen den Beteiligten zu hemmen.

Soweit es um die Vorlage des Haushaltsvoranschlags des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur sowie den Haushaltsentwurf des Ministeriums für Finanzen und Energie geht, liegt diese Gefahr von vornherein nicht nahe. Es besteht kein Anlass zu der Annahme, dass wegen befürchteter späterer Publizität Ministerien künftig einen realistisch ermittelten Haushaltsbedarf nicht mehr offen anmelden oder das Finanzministerium seine Vorstellungen nicht mehr offen in seinem Haushaltsentwurf für das Kabinett zum Ausdruck bringen würden. Das Interesse der einzelnen Regierungsmitglieder daran, dass das Ausmaß ihrer Durchsetzungsfähigkeit innerhalb der Regierung dem Parlament und damit auch einer weiteren Öffentlichkeit verborgen bleibt, ist verfassungsrechtlich nicht per se geschützt.

Nach Abwägung mit dem Gesichtspunkt wirksamer parlamentarischer Kontrolle überwiegt auch hinsichtlich der Haushaltsvermerke das Informationsinteresse der Antragsgegner. Ihr Interesse, das Zustandekommen der aufgetretenen Deckungslücke von 35,1 Mio. DM im Haushalt des Jahres 2001 aufzuklären, hat deshalb besonderes Gewicht, weil es dabei um die Frage geht, ob die Regierung dem Parlament im Verfahren der Haushaltsaufstellung Informationen über eine absehbare Unterdeckung vorenthalten und damit eines der wichtigsten Rechte des Parlaments, das Budgetrecht, missachtet hat.

Die Gründe, aus denen die Antragsgegner vermuten, dass dies geschehen sei, sind nicht aus der Luft gegriffen. Sie sind auch nicht durch die von der Landesregierung abgegebenen Erklärungen für das Zustandekommen der Haushaltslücke erledigt. Ob diese Erklärungen zutreffen, ist die Frage, um deren Klärung es geht. Die von Art. 23 Abs. 3 Satz 1, 4. Alt. LV geschützte Freiheit und Offenheit der Willensbildung bei der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen steht unter diesen Umständen der begehrten Aktenvorlage nicht entgegen.

Karlsruhe, den 22. April 2004