Bundesverfassungsgericht

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Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Pressemitteilung Nr. 75/2004 vom 3. August 2004

Beschluss vom 04. Mai 2004
1 BvR 1892/03

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) einer Beschwerdeführerin (Bf), die sich in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen die Versagung der Wiedereinsetzung in die Begründungsfrist für einen Berufungszulassungsantrag gewehrt hat, war erfolgreich. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die entgegenstehende Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) aufgehoben, weil sie die Bf in ihrem Recht auf ein faires Verfahren aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip sowie in ihrem Justizgewährungsanspruch aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes verletzt. Die Sache wird an den VGH zurückverwiesen. Die Entscheidung ist mit sieben zu einer Stimme ergangen.

1. Zum Sachverhalt:

Die Klage der Bf war vor dem Verwaltungsgericht (VG) erfolglos geblieben. Die Berufung ließ das VG nicht zu. Die beigefügte Rechtsmittelbelehrung wies korrekt darauf hin, dass ein Antrag auf Zulassung der Berufung und dessen Begründung beim VG einzureichen seien. Die Bf beantragte beim VG die Zulassung der Berufung, ohne diesen Antrag zu begründen. Die Geschäftsstelle des VG forderte die Bf mit einem auf richterlicher Anordnung beruhenden Schreiben auf, künftige Schriftsätze an den VGH zu richten.

Der VGH bestätigte mit Schreiben des Vorsitzenden der Bf den Eingang des Zulassungsantrags sowie die Vorlage der Akten. Der Vorsitzende fragte nach, ob Einverständnis mit einer Entscheidung durch ihn bestehe. Außerdem wies er darauf hin, dass Schriftsätze nur ausnahmsweise, etwa bei drohendem Fristablauf, per Telefax eingereicht werden sollen. Ansonsten sollten Schriftsätze ausschließlich auf dem normalen Postweg übersandt bzw. "unmittelbar hier" abgegeben werden. Die Bf begründete ihren Zulassungsantrag mit einem an den VGH übermittelten Schriftsatz. Der VGH wies sie darauf hin, dass die Begründung nach der zwingenden Vorschrift des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO beim VG hätte eingereicht werden müssen. Der Antrag der Bf auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand blieb erfolglos. Der VGH verwarf ihren Antrag auf Zulassung der Berufung als unzulässig.

Die Bf rügt mit ihrer dagegen gerichteten Vb eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG. Sie sei durch die Gerichte irregeführt worden.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Nach dem Gebot des fairen Verfahrens darf das Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlleistungen keine Verfahrensnachteile ableiten. Vor dem Hintergrund des Justizgewährungsanspruchs sind die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung mit besonderer Fairness zu handhaben, wenn eine Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts beruht. Die angegriffene Entscheidung verletzt diese Grundsätze.

VG und VGH haben der Bf nicht nur missverständliche, sondern falsche Hinweise gegeben. Das VG ließ die Bf - neben dem Hinweis auf die Adressierung künftiger Schriftsätze an den VGH - wissen, dass es alle für den Prozess bedeutsamen Unterlagen an den VGH übersandt habe. Das Schreiben des VG beruhte auf richterlicher Anordnung. Als künftiger Schriftsatz kam in diesem Verfahrensstand nur die bereits angekündigte Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung in Betracht, die nach § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO bei dem VG und gerade nicht bei dem VGH einzureichen ist. Das vom Vorsitzenden des zuständigen Senats unterschriebene Schreiben des VGH lässt sich nicht anders auslegen, als dass das Verfahren nunmehr beim VGH anhängig ist und alle Schriftsätze dorthin gerichtet werden sollen. Die unzutreffenden Hinweise beider Gerichte veranlassten unmittelbar die Einreichung der Begründung zum Berufungszulassungsantrag direkt beim VGH.

Allerdings widerspricht das Vorgehen der Prozessbevollmächtigten dem Wortlaut der Vorschriften des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO und der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung des VG. Grundsätzlich darf sich ein Prozessbevollmächtigter bei einer klaren Rechtslage nicht auf eine falsche Auskunft des Gerichts verlassen. Auf Grund der Umstände des vorliegenden Falls musste jedoch bei den Prozessbevollmächtigten der Bf der Eindruck entstehen, sie bräuchten sich nicht mehr nach der Rechtslage und der Belehrung zu richten. Dies lag auch daran, dass die Regelung des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO zwar sprachlich eindeutig, aber der Sache nach nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist. Das VG kann nicht abhelfen, der Verwaltungsrechtsstreit wird mit der Stellung des Zulassungsantrags beim Berufungsgericht anhängig. Deshalb ist es wenig einsichtig, dass die Begründung beim Verwaltungsgericht eingereicht werden muss. Auch der Gesetzgeber hat die Änderung der Regelung beschlossen. Künftig ist die Einreichung der Begründung beim Berufungsgericht vorgesehen. Der Sinn der derzeit noch geltenden Fassung des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO wird darin gesehen, die Akten bis zur Fertigstellung der Begründung zur Erleichterung der Akteneinsicht beim ortsnäheren Verwaltungsgericht zu belassen. Mit diesem Anliegen ist die Weiterleitung der Akten an das Berufungsgericht mit Antragseingang jedoch schwerlich zu vereinbaren. Unter diesen besonderen Umständen kann den Prozessbevollmächtigten der Bf auch nicht ausnahmsweise aus der Nichtbeachtung des Wortlauts von Gesetz und Rechtsmittelbelehrung ein Vorwurf gemacht werden. Die schwer nachvollziehbare Gesetzeslage verstärkt hier die Fürsorgepflicht der Gerichte. Sie müssen es vermeiden, durch eigenes Verhalten zusätzliche Verwirrung zu stiften.

Richterin Haas hat der Entscheidung eine abweichende Meinung angefügt.

Sie ist der Auffassung, dass der VGH bei der Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrags in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise von einem Verschulden der Prozessbevollmächtigten ausgegangen ist. Das Verschulden liegt darin, dass die Prozessbevollmächtigten ihren Angaben zufolge nicht einmal auf die Idee gekommen sind, sich über die vermeintlichen Vorgaben des VG und VGH hinwegzusetzen oder diese auch nur anzuzweifeln. Grundsätzlich gilt, dass die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines fairen Verfahrens nicht zur Folge hat, dass ein Rechtsanwalt jede gerichtliche Äußerung ungeprüft befolgen müsste. Gibt eine gerichtliche Äußerung zu Zweifeln Anlass, hat der Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege den Zweifeln nachzugehen, sich ein eigenes Bild von der Rechtslage zu machen und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zu treffen, um einen Formverstoß zu verhindern. Die Gerichtsschreiben konnten bei den Prozessbevollmächtigten der Bf nur Zweifel an dem richtigen Adressaten der Begründungsschrift auslösen. Diese hätten sie ausräumen müssen. Das Schreiben einer Urkundsbeamtin des VG mit der Bitte, künftige Schriftsätze beim VGH einzureichen, war zwar nicht ganz eindeutig. Es konnte so verstanden werden, dass es sich auch auf die Begründung des Zulassungsantrags bezieht. Angesichts des zwingenden Charakters des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO war jedoch kein Raum für eine derartige Aufforderung, und zwar gleichgültig, auf wessen Veranlassung sie ergangen ist. Das mussten die Prozessbevollmächtigten der Bf wissen. Die Unterzeichnung des Schreibens mit dem Zusatz "Auf Anordnung", mit dem nach einem Erlass der Justizverwaltung das so genannte kleine Schreibwerk zu versehen ist, lässt im Übrigen auch nicht den Schluss auf eine richterliche Anordnung zu. Die Eingangsbestätigung des VGH betrifft nach ihrem klaren Wortlaut nur die Frage, auf welche Weise (wie) Schriftsätze beim VGH eingereicht werden sollen. Zur Frage, ob anwaltliche Schriftsätze im Zulassungsverfahren beim VGH oder beim VG einzureichen sind, enthält das Schreiben des VGH keine Aussage. Weder die konkrete Verfahrenssituation noch die inhaltliche Gesamtschau des Schreibens des VGH forderte zur Einreichung der Begründung beim VGH auf. Die Bestätigung des Akteneingangs durch den VGH konnte bei den Prozessbevollmächtigten ebenfalls nicht die zweifelsfreie Überzeugung hervorrufen, der Senat erwarte von ihnen nunmehr entgegen § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO die Einreichung der Begründungsschrift beim VGH. Auch mit der allgemein und von ihnen auch so verstandenen Zielsetzung des Schreibens, unnötigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden, konnten die Prozessbevollmächtigten nicht verbinden, dass der VGH von ihnen nicht nur ein effizientes und prozessordnungsgemäßes Verhalten, sondern auch ein prozessordnungswidriges Verhalten erwartete. Der Regelungszweck der Vorschrift des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO spielt hier keine Rolle. Bei der Frage des Verschuldens kommt es nur auf solche subjektiven Umstände an, die von den Prozessbevollmächtigten selbst geltend gemacht werden. Diese haben sich vorliegend aber nicht darauf berufen, dass sich ihnen Sinn und Zweck des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO nicht erschlossen hätten. Für die verfassungsgerichtliche Prüfung kommt es deshalb allein darauf an, ob die fachgerichtliche Beurteilung der von den Prozessbevollmächtigten geltend gemachten Umstände, die zur Bejahung des Verschuldens der Säumnis führte, von Verfassungs wegen zu beanstanden ist. Das ist zu verneinen.

Karlsruhe, den 3. August 2004