Bundesverfassungsgericht

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Zur Nichtgewährung eines Teilkindergelds an Grenzgänger in die Schweiz

Pressemitteilung Nr. 85/2004 vom 14. September 2004

Beschluss vom 08. Juni 2004
2 BvL 5/00

Der Teilkindergeldausschluss nach § 65 Einkommensteuergesetz (EStG) für Fälle der Grenzgänger in die Schweiz in den Jahren 1996 und 1997 ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens entschieden.

1. Zum rechtlichen Hintergrund und Sachverhalt:

Nach § 65 Abs. 1 EStG führen Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld vergleichbar sind, zum Ausschluss des Kindergeldanspruchs in Deutschland. Teilkindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrags erhalten nach § 65 Abs. 2 EStG nur die Empfänger von Kinderzulagen aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder Kinderzuschüssen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen. Für Grenzgänger, die in Deutschland wohnen und in einem anderen Staat ihre Berufstätigkeit ausüben, schließt § 65 Abs. 2 EStG auch einen Anspruch auf Teilkindergeld bzw. Differenzkindergeld aus. Dies gilt allerdings nur, soweit diese Bestimmung nicht durch gemeinschaftsrechtliche oder zwischenstaatliche Kollisionsregelungen verdrängt wird. Dieser Anspruchsausschluss schlägt grundsätzlich auch auf den Kindergeldanspruch anderer kindergeldberechtigter Personen (anderer Elternteil, Stiefeltern, Großeltern) durch. Für Grenzgänger in EU- und EWR-Staaten sind durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem einfachen Recht der Mitgliedstaaten die dargestellten Ausschlussregelungen nicht anwendbar. Zwar hat danach der Grenzgänger selbst keine Ansprüche auf Differenzkindergeld im Wohnland. Solche Ansprüche stehen aber anderen Personen zu, die für dasselbe Kind aufgrund des Wohnsitzes kindergeldberechtigt sind. Ein gegenüber § 65 Abs. 2 EStG vorrangiges zwischenstaatliches Abkommen mit der Schweiz besteht für die Streitjahre 1996 und 1997 nicht. Dementsprechend sind die Grenzgänger in die Schweiz insoweit von der Ausschluss- und Teilkindergeldregelung des § 65 EStG betroffen. Mittlerweile wird nach dem Abkommen über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits die Schweiz insoweit wie ein Mitgliedstaat behandelt, so dass in Grenzgängerfamilien die weiteren kindergeldberechtigten Personen Teilkindergeld erhalten.

Der verheiratete Kläger des Ausgangsverfahrens wohnte mit seiner Familie im Streitjahr 1996 in Deutschland. Er war im Kanton Aargau in der Schweiz beschäftigt und bezog dort für seine ersten vier Kinder Kinderzulage jeweils in Höhe von 150 SFR monatlich. Ein weiteres Kind kam im Jahr 1996 zur Welt. Weder er noch seine Ehefrau waren in den Streitjahren in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt. Der Antrag des Klägers auf Gewährung von Kindergeld für die ersten vier Kinder ab 1. Januar 1996 blieb erfolglos. Ein Anspruch auf Zahlung von Teilkindergeld als Differenz zwischen den in der Schweiz gezahlten Kinderzulagen und dem höheren deutschen Kindergeld bestehe nicht. Das Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg ist davon überzeugt, dass die Regelung des § 65 Abs. 2 EStG wegen Unterlassens einer Teilkindergeldregelung im Fall betroffener Grenzgänger mit Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar sei.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es im Wesentlichen:

Die Kindergeldregelungen im Einkommensteuerrecht erfüllen als Bestandteil des einkommensteuerrechtlichen Familienleistungsausgleichs zum einen eine steuerrechtliche Funktion. Verfassungsrecht gebietet die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums des Kindes. Bewirkt wird dies durch den Kinderfreibetrag oder durch das Kindergeld. Zum Anderen dient das Kindergeld, soweit es zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie und erfüllt eine sozialrechtliche Funktion. Für diese zwei unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche gelten unterschiedliche Maßstäbe und Kriterien verfassungsrechtlich gebotener Gleichbehandlung. Der Gesetzgeber hat im Bereich des Einkommensteuerrechts die Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit auszurichten und das Gebot der Folgerichtigkeit zu beachten. Bei gleicher Leistungsfähigkeit sind Steuerpflichtige gleich hoch zu besteuern. Bei der Besteuerung einer Familie muss das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben. Wie der Gesetzgeber das Ergebnis, das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum für alle Steuerpflichtigen - unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz - in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen, erreicht, steht ihm grundsätzlich frei. § 65 Abs. 2 EStG verstößt nicht gegen das Gebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums der Kinder. Nach dem gesetzlichen Regelungskonzept entscheidet erst und nur die Höhe des Kinderfreibetrags endgültig darüber, ob den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verschonung des Existenzminimums der Kinder genügt wird. Das Kindergeld, das im laufenden Kalenderjahr monatlich gezahlt wird, beschränkt sich insofern auf eine als vorläufiger "Abschlag" wirkende Steuervergütung. Das Gebot der steuerlichen Verschonung des Familienexistenzminimums enthält bei dieser Ausgestaltung des Familienleistungsausgleichs keine zwingenden Vorgaben für die Höhe des Kindergeldes. Wenn die ausländische vergleichbare Leistung für die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes nicht ausreicht, ist bei der Einkommensteuerveranlagung der Kinderfreibetrag zu berücksichtigen. Wäre die Höhe des steuerlich freizustellenden Existenzminimums von Kindern verfassungswidrig bemessen, wäre die Vorschrift zum Kinderfreibetrag, die dessen Höhe bestimmt, anzugreifen.

Für die hier aufgeworfene Frage der Verfassungsmäßigkeit des Teilkindergeldausschlusses nach § 65 Abs. 2 EStG kommt es daher nicht darauf an, ob der Familienleistungsausgleich insgesamt und ob speziell der Kinderfreibetrag der Höhe nach in den Streitjahren zur Freistellung des Existenzminimums ausgereicht haben. Soweit das Kindergeld die Funktion einer Sozialleistung hat, verfügt der Gesetzgeber über größere Gestaltungsfreiheit. Er darf aber bei der Abgrenzung der Gruppen von Leistungsberechtigten nicht sachwidrig differenzieren. Der Praktikabilität und Einfachheit des Rechts kommen im Bereich der steuerrechtlichen Massenverwaltung hohe Bedeutung zu.

Nach diesem Maßstab enthält § 65 Abs. 2 EStG keinen gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss. Die Regelungen zum vollständigen Ausschluss benachteiligen Grenzgänger und ihre Familien gegenüber in Deutschland wohnenden und arbeitenden Personen in dem Umfang, in dem das deutsche Kindergeld die ausländische Leistung übersteigt. Die Benachteiligung ist begrenzt auf den Anteil des Kindergeldes, der der Förderung dient. Betroffen sind sowohl die Grenzgänger selbst als auch die weiteren Kindergeldberechtigten. Grenzgänger wie der Kläger im Ausgangsverfahren werden gegenüber den Grenzgängern in EU-Länder nicht benachteiligt. Denn für diese besteht ebenfalls kein Differenzkindergeldanspruch.

Im Gemeinschaftsrecht besteht jedoch für die weiteren Kindergeldberechtigten ein Anspruch auf Differenzkindergeld. Zur Beseitigung dieser Ungleichbehandlung durch zwei unterschiedliche Normgeber ist der deutsche Gesetzgeber gemäß Art. 3 Abs. 1 GG nicht verpflichtet. Der Anspruchsausschluss bei Bezug von vergleichbaren ausländischen Leistungen ist sachlich gerechtfertigt. § 65 EStG will legitimerweise Doppelbegünstigungen vermeiden. Im Hinblick auf die Förderfunktion des Kindergeldes kann der Familienleistungsausgleich in diesen Fällen subsidiär ausgestaltet werden. Das Verfassungsgebot der steuerlichen Freistellung des Kinderexistenzminimums wird mit der so genannten Günstigerprüfung eingehalten. Danach prüft das Finanzamt von Amts wegen, ob der Steuerpflichtige sich besser mit dem Anspruch auf Kindergeld oder mit dem Abzug der Freibeträge für Kinder stellt.

Die genannten Benachteiligungen für Grenzgänger gegenüber den uneingeschränkt Kindergeldberechtigten sind unter dem Aspekt anderweitiger sozialer Absicherung und der Einfachheit des Rechts und dessen Praktikabilität im Verwaltungsvollzug gerechtfertigt. Letzterem kommt bei grenzüberschreitenden Sachverhalten besonderes Gewicht zu. Unterschiedsbetragsregelungen verursachen gerade auch aufgrund der komplizierten Schweizer Rechtslage einen hohen Verwaltungsaufwand. Für die erhebliche Zahl von Grenzgängern in die Schweiz wäre wegen der unterschiedlichen Familienleistungen des Bundes und der einzelnen Kantone in jedem Einzelfall die Teilkindergeldberechtigung einschließlich der Höhe des eventuellen Anspruchs zu prüfen. Angesichts des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Gewährung staatlicher Leistungen ist sein Anliegen, den erheblichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand beim Vollzug einer Teilkindergeldregelung für Grenzgänger zu vermeiden, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Um ungerechtfertigte Begünstigungen und Benachteiligungen zu vermeiden, hätte der Gesetzgeber den Ausschluss von Teilkindergeldleistungen im Einzelnen ausdifferenzieren müssen. Diese aufwändige Ausdifferenzierung erübrigt der generelle Teilkindergeldausschluss für Grenzgänger.

Durch die unterbliebene Teilkindergeldregelung werden die Betroffenen nicht schlechter gestellt als bei abkommensrechtlichen Regelungen, die sich üblicherweise am Beschäftigungslandprinzip orientieren. In der ausschließlichen Geltung nur einer Rechtsordnung für Grenzgänger bestätigt sich die allgemeine Anerkennung von Praktikabilitätserwägungen gerade auch im internationalen Sozialrecht. Zudem unterliegt die Wahl von Arbeitsplatz und Wohnsitz jedenfalls grundsätzlich der freien Disposition der Kindergeldempfänger. Verfassungsrechtlich ist es den potentiellen Kindergeldberechtigten zumutbar, ihre Arbeitsplatz- und Wohnsitzentscheidungen auch ohne Flankierung durch ein nationales "Meistbegünstigungsprinzip" zu treffen.

Karlsruhe, den 14. September 2004