Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit der „Ostenteignung“ ohne Erfolg

Pressemitteilung Nr. 106/2004 vom 1. Dezember 2004

Beschluss vom 26. Oktober 2004
2 BvR 955/00

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerden (Vb) von zwei Erben früherer Grundstückseigentümer, die zwischen 1945 und 1949 im Zuge der Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone entschädigungslos enteignet wurden, zurückgewiesen.

Der Staat des Grundgesetzes ist danach zwar grundsätzlich verpflichtet, auf seinem Territorium die Unversehrtheit der elementaren Grundsätze des Völkerrechts zu garantieren und bei Völkerrechtsverletzungen nach Maßgabe seiner Verantwortung und im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten einen Zustand näher am Völkerrecht herbeizuführen. Daraus folgt jedoch keine Pflicht zur Rückgabe des in dem Zeitraum von 1945 bis 1949 außerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs entschädigungslos entzogenen Eigentums. Der Restitutionsausschluss stimmt ferner mit den Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in der Ausprägung durch die Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) überein.

Zum rechtlichen Hintergrund und Sachverhalt

Im September 1945 ergingen auf Veranlassung der sowjetischen Militäradministration in Deutschland in allen Ländern und Provinzen der sowjetischen Besatzungszone Rechtsakte zur Bodenreform. Unter anderem wurde der gesamte private Grundbesitz von mehr als 100 ha Größe entschädigungslos enteignet. Rechtsschutzmöglichkeiten gegenüber den Maßnahmen gab es nicht. Im Zuge der Verhandlungen über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gaben die Regierungen beider deutscher Staaten am 15. Juni 1990 eine Gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen ab. Im Hinblick auf die Rückübertragung von Eigentumsrechten an Grundstücken und Gebäuden heißt es darin, dass die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) "nicht mehr rückgängig" zu machen seien. Für Enteignungen der DDR 1949 bis 1990 wurde der Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" festgelegt. Die Gemeinsame Erklärung wurde über Art. 41 Abs. 1 Bestandteil des Einigungsvertrages, der wiederum nach Art. 143 Abs. 3 GG im Grundgesetz verankert wurde.

Die Beschwerdeführer sind jeweils Erben von früheren, im Zuge der Bodenreform enteigneten Grundstückseigentümern. Sie hatten sich im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erfolglos gegen die Ablehnung eines Restitutionsantrages bzw. die Erteilung einer Grundstücksverkehrsgenehmigung über eines der enteigneten Grundstücke gewandt. Die Beschwerdeführer rügen mit ihrer Vb die Verletzung ihrer Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25, 3, 14 GG und Art. 79 GG sowie Art. 103 GG. Sie sind der Meinung, der Restitutionsausschluss verstoße gegen Völkerrecht.

In den Gründen der Entscheidung heißt es

I. Die Verfassungsbeschwerden können nicht auf das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) gestützt werden. Durchtrennt eine völkerrechtlich legitim ins Leben getretene Rechtsordnung wie das sowjetische Besatzungsregime die Verbindung von Eigentümer und Eigentumsgegenstand, so endet unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit des Entzugs mit der Enteignung die förmliche Rechtsstellung des Eigentümers. Hat die Enteignung außerhalb des zeitlichen oder räumlichen Geltungsbereichs des Grundgesetzes stattgefunden, kann sich der vormalige Eigentümer nicht auf Art. 14 GG berufen.

II. Die Verfassungsbeschwerden sind unbegründet. 1. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind gem. Art. 25 GG Bestandteil des deutschen Rechts im Rang über dem einfachen Bundesrecht. Die deutschen Staatsorgane sind gem. Art. 20 Abs. 3 GG an das Völkerrecht gebunden. Eine Pflicht zur Durchsetzung des Völkerrechts besteht allerdings nicht unbesehen für jede beliebige Bestimmung des Völkerrechts, sondern nur, soweit es dem Konzept des Grundgesetzes entspricht. Das Grundgesetz will den Respekt vor friedens- und freiheitswahrenden internationalen Organisationen und dem Völkerrecht erhöhen, ohne die letzte Verantwortung für die Achtung der Würde des Menschen und die Beachtung der Grundrechte durch die deutsche öffentliche Gewalt aus der Hand zu geben. Die Pflicht, das Völkerrecht zu respektieren, hat drei Elemente: Erstens sind die deutschen Staatsorgane verpflichtet, die die Bundesrepublik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen. Zweitens hat der Gesetzgeber für die deutsche Rechtsordnung zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können. Drittens können deutsche Staatsorgane verpflichtet sein, das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich durchzusetzen, wenn andere Staaten es verletzen. Sie müssen alles unterlassen, was einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nicht deutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft. Diese Pflicht kann in einem Spannungsverhältnis zu der gleichfalls verfassungsrechtlich gewollten internationalen Zusammenarbeit zwischen den Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten stehen, insbesondere wenn eine Rechtsverletzung nur auf dem Kooperationswege beendet werden kann. Dann kann sich diese Ausprägung der Respektierungspflicht nur im Zusammenspiel und Ausgleich mit den weiteren internationalen Verpflichtungen Deutschlands konkretisieren.

Über Art. 1 Abs. 2 GG und Art. 25 Satz 1 GG erkennt das Grundgesetz die Existenz zwingender völkerrechtlichter Normen an, die von den Staaten weder einseitig noch vertraglich abbedungen werden können.

2. Ein Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Pflicht, Völkerrecht zu respektieren, liegt nicht vor. a) Die Eigentumsentziehungen im Gebiet der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in den Jahren 1945 bis 1949 lagen in der Verantwortung der sowjetischen Besatzungsmacht und können nicht der Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden. Vor der deutschen Wiedervereinigung beschränkte sich die Staatsgewalt der Bundesrepublik nicht nur tatsächlich, sondern auch staatsrechtlich auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im Zeitpunkt ihrer Gründung. Eine Verantwortlichkeit im Sinne eines Einstehenmüssens für aus ihrer Sicht rechts- oder verfassungswidrige Maßnahmen in der sowjetisch besetzten Zone bestand daher nicht.

b) Mit der Gründung der DDR war auf das von der sowjetischen Besatzungsmacht geräumte Gebiet des Deutschen Reichs ein anderer Souverän im Sinne des Völkerrechts gerückt. Die DDR konnte auf Grund ihrer Gebietshoheit Maßnahmen der Besatzungsmacht aufheben, verzichtete vorliegend jedoch hierauf. Der Bundesrepublik Deutschland erwuchs mit der deutschen Vereinigung die souveräne Kompetenz, über das Fortbestehen der besatzungshoheitlichen Enteignungen zu entscheiden. Aus der Haager Landkriegsordnung, die auch zum Zeitpunkt der Besatzung bindend war, können sich Ansprüche zwischen Besatzungsmacht und zurückkehrendem Souverän ergeben. Eine Konfliktpartei, die die Bestimmungen des Haager Rechts nicht einhält, ist zum Schadensersatz verpflichtet. Dieser Schadensersatzanspruch der betroffenen Staaten ist jedoch Gegenstand ihrer Disposition. Die Bundesrepublik Deutschland hat auf die Geltendmachung etwaiger Ansprüche aus der Haager Landkriegsordnung im Rahmen der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen stillschweigend verzichtet. Dem Verzicht stehen keine Normen des zwingenden Völkerrechts entgegen. Zum Zeitpunkt der Eigentumsentziehungen bestand keine allgemeine Rechtsüberzeugung, dass der Schutz des Eigentums eigener Staatsangehöriger Teil des universell geltenden zwingenden Völkerrechts sei. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass zu einem späteren Zeitpunkt eine Norm zwingenden Völkerrechts entstanden sei, die es für die Gegenwart ausschließt, den bestehenden Zustand als rechtmäßig zu behandeln. Das universelle Völkerrecht kannte und kennt eine Gewährleistung des Eigentums der eigenen Staatsangehörigen als menschenrechtlichen Schutzstandard nicht. Auch aus den Regelungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge und den Artikeln der International Law Commission über die Staatenverantwortlichkeit ergibt sich nicht die Rechtsfolge, dass die besatzungshoheitlichen Enteignungen von der Bundesrepublik Deutschland - ein Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht unterstellt - als nichtig zu behandeln seien. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit ist vielmehr nur insoweit angeordnet, als völkervertragliche Pflichten gerade auf eine Leistung zielen, die durch eine zwingende Norm verboten ist. Im Übrigen aber haben die Staaten lediglich eine Pflicht zur erfolgsbezogenen Zusammenarbeit.

c) Dieser Pflicht zur erfolgsbezogenen Zusammenarbeit ist die Bundesrepublik Deutschland dadurch nachgekommen, dass sie die Wiedervereinigung auf friedlichem Verhandlungswege herbeigeführt hat. In diesem Rahmen durfte die Bundesregierung zu der Einschätzung gelangen, dass die kooperative Bewältigung der Wiedervereinigung mit einer Behandlung der Enteignungen als nichtig unvereinbar wäre.

Ein Verstoß gegen die völkerrechtliche Pflicht, dass sich der Staat nicht am fremden Völkerrechtsverstoß bereichern soll, liegt nicht vor. Eine solche Pflicht ist nicht zwingend darauf gerichtet, dass die wiedererlangten Vermögensgegenstände gerade an die Alt-Eigentümer zurückgegeben werden. Verlangt wird vielmehr ein insgesamt hinreichendes Niveau der Auskehrung. Der Bund hat die sich aus Art. 21 f. Einigungsvertrag ergebende Bereicherung durch den Erlass des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes hinreichend ausgekehrt. Die getroffenen Ausgleichsregelungen sind mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Rechts- und des Sozialstaatsprinzips sowie mit Art. 3 Abs. 1 GG ebenso vereinbar, wie sie mit den völkerrechtlichen Zielvorgaben in Einklang stehen. In diesem Zusammenhang ist ferner zu berücksichtigen, dass die deutsche Vereinigung ein Prozess ist, in dem die Bundesrepublik Deutschland die Behandlung einzelner Themen wie die Bewältigung der Bodenreform in ein Gesamtkonzept des Interessenausgleichs einordnen darf. Der Senat führt dazu aus: "Die Folgen des Zweiten Weltkrieges, einer Besatzungsherrschaft und einer Nachkriegsdiktatur sind von den Deutschen als Schicksalsgemeinschaft zu tragen und als individuelle Unrechtserfahrung in bestimmten Grenzen auch zu ertragen, ohne dass in jedem Fall ein angemessener Ausgleich oder gar Naturalrestitution zu erlangen wäre." Auch aus diesem Grund wäre es unangemessen, eine bilanztaugliche Saldierung der Vermögenszuwächse des Bundes durch die Wiedervereinigung mit den an die Betroffenen ausgekehrten Summen vorzunehmen.

3. Die Entscheidung steht nicht in Widerspruch zu der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR. Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR schützt Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls nicht nur nach nationalem Recht bereits vorhandene Eigentumspositionen, sondern auch erworbene Ansprüche, auf deren Realisierung der Anspruchsinhaber berechtigterweise vertrauen durfte. Von diesem Eigentumsbegriff ausgeschlossen wird das Vertrauen auf das weitere Bestehen früherer Eigentumsrechte, die über einen langen Zeitraum nicht wirksam ausgeübt werden konnten. Der Gerichtshof hat mehrfach die Auffassung geäußert, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Folge des Zweiten Weltkriegs entzogene Eigentumsrechte regelmäßig keine von Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls geschützten "berechtigten Erwartungen" bei den ehemaligen Rechteinhabern begründeten.

4. Die Richterin Lübbe-Wolff hat der Entscheidung eine abweichende Meinung angefügt. Der Senat antworte auf Fragen, die der Fall nicht aufwerfe, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthalte: Die Frage, ob die umstrittenen Enteignungen rückgängig zu machen sind, wird durch das Grundgesetz selbst in Art. 143 Abs. 3 GG beantwortet. Die Beschwerdeführer können deshalb in ihren Grundrechten nur verletzt sein, wenn es sich bei dieser Vorschrift um verfassungswidriges Verfassungsrecht handelt (Art. 79 Abs. 3 GG). Der Senat wählt daher den falschen Ansatz, wenn er prüft, ob die Beschwerdeführer wegen möglichen Verstoßes gegen allgemeine Grundsätze des Völkerrechts in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt sind. Zu prüfen war allein, ob Art. 143 Abs. 3 GG und somit auch die angegriffenen Entscheidungen den - auch durch verfassungsänderndes Gesetz nicht antastbaren - Menschenwürdekern von Grundrechten der Bf verletzen. Hätte der Senat die Ausgangsfrage so gestellt, wäre offensichtlich geworden, dass sie ohne weiteres zu verneinen ist. Diese Frage ist bereits durch Entscheidungen des Ersten Senats negativ beantwortet. Völkerrechtliche Grundsätze sind schon ihrem Rang nach nicht geeignet, die Richtigkeit dieser Entscheidungen zu erschüttern. Die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts gehen, wie der Senat selbst erst kürzlich festgestellt hat, zwar den Bundesgesetzen, nicht aber der Verfassung vor. Sie können daher die Grundrechte der Bf nicht mit Kerngehalten anreichern, die sich auch gegen den verfassungsändernden Gesetzgeber behaupten. Der Fall bot deshalb zu näherer Auseinandersetzung mit der Völkerrechtslage keinen Anlass.

Auch wenn es auf die Völkerrechtslage angekommen wäre, hätte die Feststellung genügt, dass das Völkerrecht die Bundesrepublik Deutschland weder zur Restitution noch dazu verpflichtet, die erfolgten Enteignungen als nichtig zu behandeln. Alle weiteren Ausführungen zur Völkerrechtslage sind nicht entscheidungserheblich, denn die Streitfälle betreffen allein die Restitutionspflicht bzw. die Frage der Wirksamkeit der umstrittenen Enteignungen. Die vom Senat darüber hinaus entwickelten neuartigen Verfassungsgrundsätze, wonach die Bundesrepublik Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet ist, dem Völkerrecht gegen Verletzungen durch andere Staaten zur Durchsetzung zu verhelfen und völkerrechtswidrige Akte anderer Staaten korrigierend auszugleichen, haben im Übrigen in der Verfassung keine Grundlage. Allgemeine völkerrechtliche Grundsätze dieses Inhalts existieren nicht. Der Senat behauptet dies auch nicht; er leitet die betreffenden Verpflichtungen aus einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Respektierung des Völkerrechts ab. Wie aus einer verfassungsrechtlichen Pflicht, das Völkerrecht zu respektieren, Pflichten hervorgehen können, die das Völkerrecht selbst nicht enthält, bleibt unerklärt. Das Sondervotum beanstandet außerdem eine inkonsequente Anwendung der Zulässigkeitsvoraussetzungen, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden sind.

Karlsruhe, den 1. Dezember 2004