Bundesverfassungsgericht

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Vater erhält vorläufig Umgangsrecht

Pressemitteilung Nr. 117/2004 vom 29. Dezember 2004

Beschluss vom 28. Dezember 2004
1 BvR 2790/04

Erneut hat das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung des 14. Senats des Oberlandesgerichts Naumburg (OLG) beanstandet, das einem Vater den Umgang mit seinem leiblichen Kind versagt hat. Die 3. Kammer des Ersten Senats hat eine einstweilige Anordnung erlassen, die dem Vater den Umgang bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde (Vb) ermöglicht.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer (Bf) ist der Vater eines 1999 nicht ehelich geborenen Kindes. Die Kindesmutter gab das Kind einen Tag nach der Geburt zur Adoption frei und erklärte ihre Einwilligung zur Adoption durch die Pflegeeltern, bei denen das Kind seit seiner Geburt lebt. Seit Oktober 1999 bemüht sich der Bf in verschiedenen gerichtlichen Verfahren um die Übertragung des Sorgerechts und die Einräumung eines Umgangsrechts. Auf seine Individualbeschwerde erklärte eine Kammer der Dritten Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 26. Februar 2004 einstimmig, dass die Sorgerechtsentscheidung und der Ausschluss des Umgangsrechts eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellten. Dennoch versagte der 14. Senat des OLG Naumburg dem Bf die Wahrnehmung des Umgangs mit seinem Kind. Die entsprechende Entscheidung hob der Zweite Senat mit Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 - auf (vgl. dazu Pressemitteilung Nr. 92/2004 vom 19. Oktober 2004) und verwies die Sache an einen anderen Senat des OLG zurück. Dieser vertrat jedoch die Auffassung, nicht zu einer Sachentscheidung befugt zu sein. In der Folge hat das Amtsgericht Wittenberg eine einstweilige Anordnung betreffend das Umgangsrecht des Bf mit seinem Kind getroffen und ihm das Recht eingeräumt, seinen Sohn an jedem Sonnabend in der Zeit von 15 bis 17 Uhr zu sehen.

Gegen diese Entscheidung haben sich wiederum das Jugendamt und die Verfahrenspflegerin des Kindes mit ihren sofortigen Beschwerden gewandt. Aufgrund dieser Beschwerden setzte der 14. Senat des OLG Naumburg zunächst mit Beschluss vom 8. Dezember 2004 die Vollziehung der amtsgerichtlichen Entscheidung aus, hob diesen Beschluss aber am 20. Dezember 2004 wieder auf. Mit einem weiteren Beschluss vom 20. Dezember 2004 gab der 14. Senat des OLG Naumburg dem Amtsgericht auf, das (Hauptsache-)Verfahren zum Umgangsrecht "mit äußerster Beschleunigung weiterzuführen und zum Abschluss zu bringen". Bis zu einer abschließenden Entscheidung des Amtsgerichts sei der Umgang des Bf mit seinem Kind "zwecks Meidung einer sonst drohenden Gefährdung des Kindeswohls" ausgeschlossen.

Mit seiner gegen die Entscheidung des OLG erhobenen Vb, die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden ist, rügt der Bf u.a. die Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 6 GG und Art. 101 Abs. 1 GG.

Der Entscheidung der 3. Kammer des Ersten Senats über den Antrag auf einstweilige Anordnung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die Vb ist nicht unzulässig und auch nicht offensichtlich unbegründet. Vielmehr spricht vieles dafür, dass das OLG gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen und damit willkürlich das Recht des Bf auf den gesetzlichen Richter verletzt hat. Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt unter anderem dann vor, wenn sich eine Entscheidung bei der Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsnorm so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen, also willkürlich ist. Diese Voraussetzungen dürften hier erfüllt sein. Der bisherige objektive Verfahrensablauf legt die Vermutung nahe, dass sich das OLG bei seiner Entscheidung von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen, indem es die materielle Umgangsregelung des Amtsgerichts überprüft und damit die Regelungen der Zivilprozessordnung umgangen hat, wonach eine Beschwerde gegen einstweilige Umgangsregelungen nicht zulässig ist. Außerdem dürfte das OLG die Vorgaben des EGMR wiederum nicht hinreichend beachtet und damit den Bf in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt haben. Der EGMR hat entschieden, dass der Bf durch den Umgangsrechtsausschluss in seinem Recht aus Art. 8 EMRK verletzt sei und dass ihm zumindest der Umgang mit seinem Kind gewährleistet werden muss. Nach dem aus Anlass dieser Entscheidung ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004 erstreckt sich die Bindungswirkung einer Entscheidung des EGMR auf alle staatlichen Organe und verpflichtet diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden sowie einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen. Gerichte sind zur Berücksichtigung eines Urteils, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, jedenfalls dann verpflichtet, wenn sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut über den Gegenstand entscheiden und dem Urteil ohne materiellen Gesetzesverstoß Rechnung tragen können.

Diese Vorgaben hat das OLG ersichtlich abermals nicht beachtet. Insbesondere hat es sich nicht ansatzweise mit der Frage auseinander gesetzt, wie der Bf eine Familienzusammenführung überhaupt erreichen kann, wenn ihm der Aufbau jeglicher Kontakte mit seinem Kind versagt bleibt. Auch hat es sich nicht hinreichend mit den Erwägungen des EGMR befasst, wonach es dem Kindeswohl entspreche, die familiären Beziehungen aufrechtzuerhalten, da der Abbruch solcher Beziehungen die Trennung des Kindes von seinen Wurzeln bedeute, was nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen gerechtfertigt sei. Dass die vom OLG pauschal erwogene und mit keinen konkreten Tatsachen belegte Kindeswohlgefährdung durch die vom Amtsgericht angeordnete Anwesenheit einer geschulten Begleitperson gebannt werden kann, hat das OLG ebenso wenig in Betracht gezogen wie die Tatsache, dass der Umgang ohnehin nur für eine Dauer von zwei Stunden pro Woche vorgesehen ist.

Die Anordnung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet, dass die amtsgerichtliche Umgangsregelung für die Dauer der durch das Bundesverfassungsgericht erlassenen einstweiligen Anordnung Bestand hat und von daher - vorbehaltlich einer Änderung der Sachlage - solange einer gerichtlichen Überprüfung durch das OLG entzogen ist.

Karlsruhe, den 29. Dezember 2004