Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Aufnahme in Verfassungsschutzbericht

Pressemitteilung Nr. 57/2005 vom 28. Juni 2005

Beschluss vom 24. Mai 2005
1 BvR 1072/01

Die Beschwerdeführerin (Bf) ist Verlegerin und Herausgeberin der Wochenzeitung "Junge Freiheit". Ihre Verfassungsbeschwerde (Vb), mit der sie sich gegen die Aufnahme ihrer Wochenzeitung in die Verfassungsschutzberichte des Landes Nordrhein-Westfalen der Jahre 1994 und 1995 wandte, war erfolgreich. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hob die angegriffenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts (VG) und Oberverwaltungsgerichts (OVG) auf, da sie die Beschwerdeführerin (Bf) in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzen. Die Sache wurde an das VG zurückverwiesen. Dieses hat unter Berücksichtigung der vom Senat dargestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen erneut zu prüfen, ob die tatsächlichen Anhaltspunkte für einen Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen der Bf ausreichen. Insbesondere ist erneut zu bewerten, ob der Bf die in Artikeln Dritter, die nicht der Redaktion angehören, veröffentlichten verfassungsfeindlichen Positionen zugerechnet werden können.

Sachverhalt:

Das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen gibt jährlich Verfassungsschutzberichte zur Information der Öffentlichkeit heraus. Rechtsgrundlage ist § 15 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen (VSG NRW). Diese Norm enthält eine Ermächtigung zur Information der Öffentlichkeit in Verfassungsschutzberichten, um über verfassungsfeindliche Bestrebungen und Tätigkeiten aufzuklären. In den Berichten über die Jahre 1994 und 1995 wurde die "Junge Freiheit" im Rahmen der Berichterstattung über rechtsextremistische Bestrebungen ausführlich behandelt. Die in ihr veröffentlichten Beiträge enthielten nach Einschätzung des Landes Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Zum Beleg greifen die Verfassungsschutzberichte einzelne Artikel aus der "Jungen Freiheit" heraus, um auf dieser Grundlage ein Gesamturteil über die Zeitung und die hinter ihr stehende Gruppierung zu begründen.

Das VG wies die von der Bf erhobene Klage unter anderem mit der Begründung ab, dass die Aufnahme von Passagen über die "Junge Freiheit" in die Verfassungsschutzberichte den Schutzbereich der Pressefreiheit nicht berühre. Mit der gleichen rechtlichen Begründung wies das OVG den Antrag auf Zulassung der Berufung zurück. Die gegen die gerichtlichen Entscheidungen gerichtete Vb hatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Nennung der Wochenzeitung der Bf im Verfassungsschutzbericht berührt das Grundrecht der Pressefreiheit. Durch die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht wird die Bf zwar nicht gehindert, die Zeitung weiter zu vertreiben und auch zukünftig Artikel wie die beanstandeten abzudrucken. Ihre Wirkungsmöglichkeiten werden jedoch nachteilig beeinflusst. Potenzielle Leser können davon abgehalten werden, die Zeitung zu erwerben, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass etwa Inserenten, Journalisten oder Leserbriefschreiber die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht zum Anlass nehmen, sich von der Zeitung abzuwenden oder sie zu boykottieren. Dies kommt einem Eingriff in die Pressefreiheit gleich.

2. Ein Eingriff in die Pressefreiheit bedarf der Rechtfertigung durch ein allgemeines Gesetz (Art. 5 Abs. 2 GG). Ein solches Gesetz ist § 15 Abs. 2 VSG NRW. Bei der Nutzung der Ermächtigung des § 15 Abs. 2 VSG NRW zur Veröffentlichung von Informationen im Verfassungsschutzbericht ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Um den Verdacht einer verfassungsfeindlichen Bestrebung zu bejahen oder die negative Sanktion einer Veröffentlichung im Verfassungsschutzbericht zu ergreifen, müssen hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Die bloße Kritik an Verfassungswerten reicht nicht aus. Denn die Meinungs- und Pressefreiheit lässt auch eine kritische Auseinandersetzung mit Verfassungsgrundsätzen zu. Lassen sich aber aus den Meinungsäußerungen Bestrebungen zur Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ableiten, dürfen Maßnahmen zur Verteidigung dieser Grundordnung ergriffen werden. Dabei können auch einzelne Zeitungsartikel zur Begründung herangezogen werden, wenn sie aus sich heraus oder im Zusammenwirken mit anderen Befunden auf verfassungsfeindliche Bestrebungen hindeuten. Auch Artikel, die die Mitglieder der Redaktion nicht selbst verfasst haben, dürfen einbezogen werden. In diesem Fall bedarf es aber besonderer Anhaltspunkte, warum aus den Artikeln von Dritten, die der Redaktion nicht angehören, entsprechende Bestrebungen von Verlag und Redaktion abgeleitet werden können. Dies kann der Fall sein, wenn durch die redaktionelle Auswahl der von Dritten geschriebenen Veröffentlichungen verfassungsfeindliche Bestrebungen von Verlag und Redaktion zum Ausdruck kommen.

3. Die Begründung der Fachgerichte, warum die zum Beleg herangezogenen Artikel Ausdruck der verfassungsfeindlichen Bestrebungen von Verlag und Redaktion und nicht nur ihrer Autoren sein sollen, genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Gerichte sind irrig davon ausgegangen, die "Junge Freiheit" könne allein deshalb nicht als "Markt der Meinungen" verstanden werden, weil sie nur für ein bestimmtes politisches Spektrum offen stehe. Von der Pressefreiheit ist auch die Entscheidung erfasst, ein Forum nur für ein bestimmtes politisches Spektrum zu bieten, dort aber den Autoren große Freiräume zu gewähren und sich in der Folge nicht mit allen einzelnen Veröffentlichungen zu identifizieren. Die Fachgerichte werden daher erneut bewerten müssen, ob die tatsächlichen Anhaltspunkte für einen Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen der Bf auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ausreichen.

Ferner haben sie zu prüfen, ob die Art der Veröffentlichung den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entsprach. Obwohl die Behörde nur von Anhaltspunkten für einen Verdacht ausgegangen ist, hat sie die Bf ohne jede Differenzierung in der Gliederung oder in den Überschriften des Berichts auf die gleiche Stufe gestellt wie Gruppen, für die sie verfassungsfeindliche Bestrebungen festgestellt hat. Es könnte ein milderes Mittel sein, durch die Gestaltung des Berichts eindeutig klar zu stellen, dass die verfassungsfeindlichen Bestrebungen keineswegs festgestellt sind.

Karlsruhe, den 28. Juni 2005