Bundesverfassungsgericht

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Kapitalbildende Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung: Schutzdefizit für Versicherungsnehmer bei der Ermittlung des Schlussüberschusses

Pressemitteilung Nr. 67/2005 vom 26. Juli 2005

Urteil vom 26. Juli 2005
1 BvR 80/95

Die gesetzlichen Regelungen für den Bereich der kapitalgebundenen Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung genügen nicht den verfassungsrechtlichen Schutzanforderungen. Es fehlen hinreichende rechtliche Vorkehrungen dafür, dass bei der Berechnung des bei Vertragsende zu zahlenden Schlussüberschusses die durch die Prämienzahlungen geschaffenen Vermögenswerte angemessen berücksichtigt werden. Insbesondere gibt es keine Möglichkeit der Klärung, ob der Schlussüberschuss etwa durch die Nichtberücksichtigung stiller Reserven und durch nicht gerechtfertigte Querverrechnungen zu gering festgesetzt worden ist. Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2007 eine Regelung zu treffen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht wird. Bis zur Neuregelung bleibt es bei der gegenwärtigen Rechtslage. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 26. Juli 2005.

Damit war die nach Art eines Musterprozesses mit Unterstützung des Bundes der Versicherten erhobene Verfassungsbeschwerde eines Versicherungsnehmers, der eine kapitalbildende Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung abgeschlossen hatte, jedenfalls im Kern erfolgreich. Der Versicherungsnehmer hatte - ohne Erfolg - die Zivilgerichte angerufen, um zu erreichen, dass bei der Berechnung seiner Überschussbeteiligung insbesondere stille Reserven des Versicherungsunternehmens berücksichtigt werden (siehe auch Pressemitteilung Nr. 89/2004 vom 24. September 2004).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Führen gesetzliche Regelungen dazu, dass Versicherte ihre rechtlich erheblichen Belange nicht selbst und eigenständig effektiv verfolgen können, bewirkt der verfassungsrechtliche Schutz der Privatautonomie durch Art. 2 Abs. 1 GG eine Pflicht des Gesetzgebers, für eine Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses der davon betroffenen Vertragsparteien zu sorgen, die ihren Belangen hinreichend Rechnung trägt. Bezieht sich das Defizit privatautonomer Interessendurchsetzung auf eine Position, die objektivrechtlich auch vom Schutz der Eigentumsgarantie erfasst wird, folgt die gesetzliche Schutzpflicht zugleich aus Art. 14 Abs. 1 GG.

2. Ein solches Schutzdefizit betrifft im Rahmen der kapitalbildenden Lebensversicherung die Überschussermittlung. Die Versicherungsnehmer übertragen den Versicherungsunternehmen durch ihre Prämienzahlungen Vermögen, das vollständig in das unternehmerische Eigentum übergeht. Die Versicherungsunternehmen sind in der Anlage der Vermögenswerte grundsätzlich frei. Hinsichtlich der Bilanzierung haben sie allerdings die handelsrechtlichen Bewertungsregeln über Vermögensanlagen zu beachten. Diese Regeln erlauben die Schaffung stiller Reserven. Solche Reserven bestehen auf der Aktivseite in der Differenz zwischen dem Buchwert und dem Zeitwert. Nach den Bewertungsregeln bleiben stille Reserven für die Überschussberechnung vollständig außer Ansatz, soweit sie nicht realisiert werden, etwa durch Veräußerung einer Immobilie. Die Versicherten haben keine Möglichkeit, die Einbeziehung nicht realisierter stiller Reserven in die Überschussberechnung insoweit zu bewirken, als die Vermögenswerte auf den von ihnen erbrachten Prämienzahlungen beruhen. Die Berücksichtigung der stillen Reserven wird vielmehr pauschal unter Verweis auf das Realisationsprinzip des handelsrechtlichen Bewertungsrechts verneint. Darüber hinaus können die Überschussbildung und damit die Überschussbeteiligung auch durch Querverrechnungen berührt werden, ohne dass die Versicherten darauf Einfluss nehmen können. Gemeint ist insbesondere die Verrechnung der durch die Prämienkalkulation nicht gedeckten Kosten mit Überschüssen, die etwa aufgrund günstigerer Risiko- oder Kapitalergebnisse entstehen.

Der Wettbewerb um das Produkt Lebensversicherung funktioniert für die Versicherten nur in beschränkter Weise. Ihnen fehlen praktisch realisierbare Möglichkeiten, selbst und eigenständig auf Änderungen der Praxis zu ihren Gunsten hinzuwirken. Die Vertragsbedingungen der Lebensversicherer sind praktisch nicht verhandelbar. Der Versicherungsnehmer hat keine Chance, einen Versicherungsvertrag mit Überschussbeteiligung so abzuschließen, dass die stillen Reserven jedenfalls teilweise auch ohne Realisierung berücksichtigt und Möglichkeiten der Querverrechnung transparent gemacht und inhaltlich begrenzt werden. Nach Vertragsschluss sind die Möglichkeiten, auf das Vertragsverhältnis Einfluss zu nehmen, noch beschränkter. Insbesondere ist die Kündigung des Vertrages keine wirtschaftlich sinnvolle Option, da sie regelmäßig mit erheblichen Nachteilen verbunden ist.

3. Angesichts der fehlenden Möglichkeiten der Versicherungsnehmer, ihre Belange selbst und eigenständig effektiv zu verfolgen, trifft den Gesetzgeber ein verfassungsrechtlicher Schutzauftrag. Er hat hinreichende rechtliche Vorkehrungen dafür vorzusehen, dass bei der Ermittlung eines bei Vertragsende zuzuteilenden Schlussüberschusses die Vermögenswerte angemessen berücksichtigt werden, die durch die Prämienzahlungen geschaffen worden sind. Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber nicht in ausreichendem Maße nachgekommen. Er hat weder im Versicherungsvertragsrecht noch im Versicherungsaufsichtsrecht für hinreichende Schutzvorkehrungen gesorgt.

Das (zivilrechtliche) Versicherungsvertragsrecht regelt - jedenfalls in der Auslegung durch den Bundesgerichtshof - nicht die Feststellung des Überschusses selbst, sondern dessen Verteilung an die Versicherten. Der Bundesgerichtshof verweist für die Ermittlung des Überschusses auf die Kontrollmöglichkeiten des Versicherungsaufsichtsrechts. Der Maßstab des (öffentlichrechtlichen) Versicherungsaufsichtsrechts ist der der Missstandsaufsicht. Die aufsichtliche Tätigkeit orientiert sich nicht am einzelnen Versicherungsverhältnis, sondern an den Belangen der Versicherten in ihrer Gesamtheit und an der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Versicherungswesens. Der Blick auf die Funktionsfähigkeit legt es nahe, stille Reserven möglichst für zukünftige Zeiten zu halten; den Belangen einzelner aus dem Versicherungsverhältnis ausscheidender Versicherten kann dies aber widersprechen.

Die Rechtslage wird den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten nicht gerecht. Während die Zivilgerichte darauf verweisen, dass die Versicherungsaufsicht Missstände beseitigt, stellen sie insoweit eine eigene Prüfung der hinreichenden Berücksichtigung der Belange der Versicherten zurück. Das Versicherungsaufsichtsrecht ist andererseits nicht in positiver Weise auf die Wahrung der Belange der Versicherten ausgerichtet. Es gibt für die Versicherten insbesondere keine rechtlichen Möglichkeiten zur Überprüfung, ob eine angemessene Berücksichtigung der Vermögenswerte vorliegt, die bei den Versicherungsunternehmen mit den gezahlten Versicherungsprämien gebildet worden sind.

4. Die seit Ablauf des vorliegend maßgeblichen Vertrages erfolgten Neuregelungen haben die aufgezeigten Probleme noch nicht bewältigt. Der Gesetzgeber wird im Rahmen des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums Lösungen zur Beseitigung des Schutzdefizits bereitzustellen haben. Auf die bisherigen im Versicherungsaufsichtsrecht und Versicherungsvertragsrecht vorgesehenen Instrumente ist er nicht beschränkt. In die Prüfung angemessener Lösungen können Möglichkeiten zur Sicherung größerer Transparenz hinsichtlich der Entwicklung von Überschussquellen und der Auskehrung von Überschüssen und zur Verbesserung des Informationszugangs ebenso einbezogen werden wie neue verfahrensmäßige Wege zum Schutz der betroffenen Belange. Auch kann die Funktionsweise des Wettbewerbs zu Gunsten der Versicherten verbessert werden, etwa durch Erleichterungen beim Wechsel des Versicherers. In Betracht kommen auch versicherungsspezifische Arten der Bilanzierung.

Karlsruhe, den 26. Juli 2005