Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Demonstration in Lüneburg am 28. Januar 2006 darf stattfinden

Pressemitteilung Nr. 6/2006 vom 27. Januar 2006

Beschluss vom 26. Januar 2006
1 BvQ 3/06

Der Antragsteller meldete für den 28. Januar 2006 eine Demonstration in Lüneburg unter dem Motto "Keine Demonstrationsverbote - Meinungsfreiheit erkämpfen" an. Die Stadt Lüneburg verbot unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Durchführung des Aufzugs, da Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Antragsteller abweichend von dem angemeldeten Versammlungsmotto eine Versammlung zu dem Thema "Gegen staatliche Repression - den § 130 Strafgesetzbuch kippen!" beabsichtige. Werde eine Versammlung mit diesem Thema am Folgetag des 27. Januar 2006 als dem Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus durch rechtsextremistische Kreise veranstaltet, so führe diese Art und Weise der Durchführung der Versammlung zu einer unmittelbaren und erheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Das Demonstrationsverbot wurde vom Verwaltungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht bestätigt.

Der Antrag des Veranstalters auf Eilrechtsschutz hatte vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg. Die 1. Kammer des Ersten Senats entschied, dass die Demonstration stattfinden darf und gab damit dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage statt. Die Demonstration darf jedoch nur mit der Maßgabe stattfinden, dass etwaigen Auflagen der Versammlungsbehörde Folge zu leisten ist.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: Eine Rechtsgrundlage für das ausgesprochene Versammlungsverbot ist nicht zu erkennen. Die Anordnung lässt sich nicht auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz stützen.

Die öffentliche Ordnung kann zwar auch verletzt sein, wenn Rechtsextremisten einen Aufzug an einem speziell der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus dienenden Gedenktag so durchführen, dass von seiner Art und Weise Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger beeinträchtigen. Aus der bloßen zeitlichen Nähe des Zeitpunkts der Versammlung zu einem solchen Gedenktag allein kann eine solche provokative Wirkung jedoch nicht abgeleitet werden.

Eine Störung der öffentlichen Ordnung lässt sich hier auch nicht aus dem von der Versammlungsbehörde und den Gerichten zu Grunde gelegten Motto der Versammlung (Forderung nach einer Abschaffung des § 130 Strafgesetzbuch) ableiten. Die Entscheidungen stützen sich nicht auf die Erwägung, dass dieses Versammlungsmotto oder der Inhalt der bei der Versammlung zu erwartenden Äußerungen strafbaren Inhalt habe und damit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu erwarten sei. Eine Störung der öffentlichen Ordnung wollen die Gerichte vielmehr aus dem Umstand herleiten, dass das von ihnen für sich genommen als zulässig bewertete Motto zum Gegenstand einer Versammlung gemacht werde, deren Termin in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu einem dem Gedenken an den nationalsozialistischen Holocaust gewidmeten Gedenktag liege. Ging jedoch weder von dem Motto der geplanten Veranstaltung und den hieran anknüpfenden zu erwartenden Äußerungen der Versammlungsteilnehmer noch von dem geplanten Termin der Versammlung für sich genommen eine greifbare Provokationswirkung aus, so kann eine Störung der öffentlichen Ordnung unter dem Gesichtspunkt einer von der äußeren Art und Weise des Versammlungsgeschehens ausgehenden Provokationswirkung grundsätzlich auch nicht daraus hergeleitet werden, dass für sich genommen unbedenkliche rechtspolitische Forderungen an einem für sich genommen gleichfalls unbedenklichen Zeitpunkt geäußert werden.