Bundesverfassungsgericht

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Todesurteile von 1944 gegen zwei Jugendliche kraft Gesetzes aufgehoben - daher kein Raum für Wiederaufnahmeverfahren

Pressemitteilung Nr. 26/2006 vom 31. März 2006

Beschluss vom 08. März 2006
2 BvR 486/05

Am 13. September 1944 wurden die beiden damals erst 14-jährigen Jugendlichen Karl S. und Johann H. in Aachen zusammen mit einer Gruppe von Erwachsenen durch Wehrmachtsangehörige unter dem Vorwurf des Plünderns festgenommen. Ein sogleich eingesetztes Standgericht verurteilte die beiden Jungen zum Tode. Das Urteil wurde unmittelbar danach durch Erschießen vollstreckt. Den Jungen wurde keine Gelegenheit gegeben, Rechtsmittel einzulegen. Im Jahre 2003 wandten sich Angehörige (Beschwerdeführer) der beiden Jugendlichen mit "Anträgen auf Rehabilitierung" an die Staatsanwaltschaft Aachen. Diese erteilte ihnen die Bescheinigung, dass die Verurteilung aufgrund des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-Aufhebungsgesetz) aufgehoben sei. Ein daraufhin gestellter Antrag der Angehörigen auf Wiederaufnahme des standgerichtlichen Verfahrens mit dem Ziel, die beiden hingerichteten Jungen vom Vorwurf der Plünderung freizusprechen, wurde in letzter Instanz vom Oberlandesgericht Köln als unzulässig verworfen. Ihre hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts führt aus, dass das Oberlandesgericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen ist, dass den Beschwerdeführern das Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr eröffnet ist, da die Urteile bereits nach dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege aufgehoben sind.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Den Beschwerdeführern ist das Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr eröffnet, da es infolge der Aufhebung der Urteile nach dem NS- Aufhebungsgesetz an einem "Anfechtungsgegenstand" für ein Wiederaufnahmeverfahren fehlt. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des NS- Aufhebungsgesetzes bestehen keine Bedenken, insbesondere ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich der Gesetzgeber in rehabilitierungswürdigen Fällen der vorliegenden Art für eine pauschale Aufhebung statt für eine Wiederaufnahme der einzelnen Verfahren entschieden hat.

Das Wiederaufnahmeverfahren geht von im Grundsatz rechtsstaatlichen Verhältnissen aus, unter denen im Einzelfall fehlerhafte Verfahrensergebnisse auch nach Rechtskrafteintritt korrigiert werden können. In Fällen der vorliegenden Art geht es dagegen um ein systembedingtes reines Willkürverfahren, das aber bei Anwendung der Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens als Grundlage für die Durchführung einer nachträglichen Beweisaufnahme dienen würde. Damit käme diesem Verfahren ein Stellenwert zu, den es nicht verdient. Darüber hinaus ist das herkömmliche Wiederaufnahmeverfahren zumindest unzulänglich, die sich aus der Existenz nationalsozialistischer Unrechtsurteile stellenden Probleme zu lösen. So müsste ein Wiederaufnahmegrund vorliegen, was jedenfalls in Bezug auf die Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel allein schon wegen der lange zurückliegenden Zeit unwahrscheinlich ist. Darüber hinaus sind die Fährnisse eines Wiederaufnahmeverfahrens zur berücksichtigen. Wenn etwa das von den jeweiligen Antragstellern beigebrachte neue Beweismittel nicht geeignet ist, einen Freispruch herbeizuführen, etwa weil ein Zeuge sich doch nicht mehr genau erinnern kann, wäre der Antrag auf Wiederaufnahme als unbegründet zu verwerfen oder gar das frühere Urteil aufrechtzuerhalten. Zudem ist zu bedenken, dass eine Aufrollung des Einzelfalles häufig dadurch erschwert wird, dass die Verfahrensakten absichtlich oder aufgrund von Kriegseinwirkungen vernichtet worden sind. Bei der Frage, wie eine umfassende Rehabilitation erreicht werden kann, ist schließlich auch die hohe Zahl der bis 1998 noch in Kraft gewesenen NS-Unrechtsurteile, die auf mehrere Hunderttausende geschätzt wurde, zu berücksichtigen. Allein dies macht deutlich, dass durch eine detaillierte Neubeurteilung jedes einzelnen Sachverhaltes das gesetzgeberische Ziel nicht zu erreichen war. Angesichts dieser Probleme hat der Gesetzgeber die Grenzen seiner Gestaltungsmacht nicht überschritten, wenn er statt einer gerichtlichen Aufhebung der Einzelfälle eine gesetzliche Aufhebung der Entscheidungen anordnet. Hierdurch wird dem Rehabilitierungsinteresse der Betroffenen aus verfassungsrechtlicher Sicht hinreichend Genüge getan.