Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerde gegen Rücknahme einer durch Täuschung erwirkten Einbürgerung erfolglos

Pressemitteilung Nr. 41/2006 vom 24. Mai 2006

Urteil vom 24. Mai 2006
2 BvR 669/04

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde eines Beschwerdeführers, der sich gegen die Rücknahme einer durch Täuschung erwirkten Einbürgerung gewandt hatte, mit Urteil vom 24. Mai 2006 zurückgewiesen.

(Zum Sachverhalt vgl. Pressemitteilung Nr. 106/2005 vom 28. Oktober 2005)

Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesprochene Verbot der Entziehung der Staatsangehörigkeit stehe der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung nicht entgegen. Auch der in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Schutz vor Staatenlosigkeit schließe in einem solchen Fall die Rücknahme der Einbürgerung nicht aus. Die Rücknahme sei auch aufgrund einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage erfolgt. Die Anwendung des § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz des Landes Baden-Württemberg, der allgemein die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte regelt, sei unbedenklich, jedenfalls wenn der Betroffene die Einbürgerung durch Täuschung bewirkt hat. Der parlamentarische Gesetzgeber sei nicht verpflichtet gewesen, für erschlichene Einbürgerungen eine besondere staatsangehörigkeitsrechtliche Regelung zu treffen. Allerdings bedürfe die Frage, welche Auswirkungen ein Fehlverhalten im Einbürgerungsverfahren auf den Bestand der Staatsangehörigkeit Dritter haben kann, die an diesem Fehlverhalten nicht beteiligt waren, einer Antwort durch den Gesetzgeber.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesprochene Verbot der Entziehung der Staatsangehörigkeit steht der Rücknahme einer durch Täuschung erwirkten rechtswidrigen Einbürgerung nicht entgegen.

Mit dem Verbot der Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit grenzt die Verfassung sich ab von historischen Mißbräuchen des Staatsangehörigkeitsrechts. Vor Mißbräuchen dieser Art, die der Staatsangehörigkeit ihre Bedeutung als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit raubten und sie in ein Mittel der Ausgrenzung statt der Integration verkehrten, soll Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG nach dem Willen des Verfassungsgebers Schutz gewährleisten. Entziehung ist danach jede Verlustzufügung, die die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit beeinträchtigt. Zur Verlässlichkeit des Staatsangehörigkeitstatus gehört auch die Vorhersehbarkeit eines Verlusts und damit ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Bereich der staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlustregelungen.

Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG schließt danach die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung nicht grundsätzlich aus. Wenn demjenigen, der durch Täuschung oder vergleichbares Fehlverhalten eine rechtswidrige Einbürgerung erwirkt hat, die missbräuchlich erworbene Rechtsposition nicht belassen wird, beeinträchtigt dies weder ein berechtigtes Vertrauen des Betroffenen noch kann das Stabilitätsvertrauen Anderer, die sich im Verfahren ihrer Einbürgerung solche Missbräuche nicht haben zuschulden kommen lassen, beschädigt werden.

2. Auch der in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Schutz vor Staatenlosigkeit steht der Rücknahme der Einbürgerung des Beschwerdeführers nicht entgegen.

Die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung daran scheitern zu lassen, dass der Betroffene dadurch möglicherweise staatenlos wird, läge so eindeutig außerhalb des Sinns und Zwecks der Vorschrift, dass der insoweit überschießende Wortlaut für die Auslegung nicht maßgeblich sein kann. Der Schaffung des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG lag die Absicht zugrunde, sich in Abgrenzung von der nationalsozialistischen Ausbürgerungspolitik und den Ausbürgerungen, von denen Deutsche im Zuge der Vertreibungen betroffen waren, an völkerrechtliche Bestrebungen zur Bekämpfung der Staatenlosigkeit anzuschließen. Mit dieser Zielsetzung ist die Inkaufnahme von Staatenlosigkeit im Fall der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung vereinbar. Es gab und gibt weder einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts noch eine die Bundesrepublik Deutschland bindende völkerrechtliche Vereinbarung, die die Inkaufnahme von Staatenlosigkeit in einem solchen Fall ausschließen. In den völkerrechtlichen Vereinbarungen wird Staatenlosigkeit gerade für den Fall der Rücknahme erschlichener Einbürgerungen ausdrücklich hingenommen.

In diesem Punkt ist die Entscheidung mit 6:2 Stimmen ergangen.

3. Die in § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz des Landes Baden-Württemberg (LVwVfGBW) getroffene allgemeine Regelung über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte reicht hier als gesetzliche Grundlage der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung aus.

a) Nach Ansicht der Richter Hassemer, Di Fabio, Mellinghoff und Landau genügt die Bestimmung den Anforderungen des in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG konkretisierten Gesetzesvorbehalts, jedenfalls wenn der Betroffene die Einbürgerung durch Täuschung bewirkt hat. Ihre Anwendung ist nicht wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Landes Baden-Württemberg ausgeschlossen. Der parlamentarische Gesetzgeber war auch nicht verpflichtet, für erschlichene Einbürgerungen eine besondere staatsangehörigkeitsrechtliche Regelung zu wählen.

Art. 16 Abs. 1 GG fordert eine der Bedeutung des Staatsangehörigkeitsstatus angemessene gesetzliche Ausgestaltung für den Erwerb, die Aufhebung der Einbürgerung und den Verlust der Staatsangehörigkeit. Ob diese Anforderungen erfüllt sind, kann nicht allein nach der systematischen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gesetz entschieden, sondern muss vor allem danach beurteilt werden, ob den inhaltlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben Rechnung getragen wird. Im vorliegenden Fall, da der Betroffene selbst nachweislich durch Täuschung die Einbürgerung herbeiführte und diese zeitnah zurückgenommen wird, ist der grundrechtlich geforderten Rechtssicherheit und Normenklarheit Genüge getan, wenn der Betroffene anhand einer allgemeinen gesetzlichen Verwaltungsverfahrensvorschrift die Folge der Rücknahme voraussehen kann. In einem solchen Fall steht dem Täuschenden kein schützenswertes Vertrauen zu, so dass das rechtsstaatliche Interesse an der rückwirkenden Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände regelmäßig überwiegt. Mit § 48 LVwVfGBW besteht eine Regelung, in der das Ermessen der Verwaltung durch ein rechtsstaatliches Abwägungsprogramm zwischen Vertrauensschutz und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung begrenzt wird.

Allerdings sind Fallkonstellationen möglich, die in § 48 LVwVfGBW keine hinreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage finden. Die Regelungsbedürftigkeit der Aufhebung von Einbürgerungen sowie der Nichtigkeit von Einbürgerungsakten zeigt sich insbesondere bei - im vorliegenden Fall nicht einschlägigen - Konstellationen, in denen die Rechtmäßigkeit der Einbürgerung von Angehörigen, insbesondere von Kindern, im Vordergrund steht. Die Frage, welche Auswirkungen ein Fehlverhalten im Einbürgerungsverfahren auf den Bestand der Staatsangehörigkeit Dritter haben kann, die an diesem Fehlverhalten nicht beteiligt waren, bedarf einer Antwort durch den Gesetzgeber.

b) Nach Ansicht der Richterinnen und Richter Broß, Osterloh, Lübbe- Wolff und Gerhardt reicht § 48 LVwVfGBW als gesetzliche Grundlage für die Rücknahme einer Einbürgerung nicht aus.

Entscheidet sich der Gesetzgeber für die Möglichkeit der Rücknahme von Einbürgerungen, hat er Reichweite und Grenzen dieser Möglichkeit selbst zu bestimmen und die notwendigen Abwägungsentscheidungen unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Materie selbst zu treffen. Art. 16 Abs. 1 GG liegt die Absicht des Verfassungsgebers zugrunde, in Bezug auf den Bestand der Staatsangehörigkeit besonders strenge Vorkehrungen gegen gleichheitswidrige Behandlung zu treffen. Der gesetzlichen Vorprägung behördlicher Entscheidungen als der elementarsten Form der Gleichheitssicherung kommt daher gerade hier besonders große Bedeutung zu.

Gegen die Heranziehung von § 48 LVwVfGBW als Rechtsgrundlage für die Rücknahme von Einbürgerungen bestehen schon aus kompetenzrechtlichen Gründen erhebliche Bedenken. Jedenfalls genügt § 48 LVwVfGBW inhaltlich nicht den Anforderungen an eine Verlustregelung im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung die erforderlichen grundrechtsspezifischen Entscheidungen gerade nicht getroffen. Die als allgemeine Auffangvorschrift für die Rücknahme von Verwaltungsakten konzipierte Bestimmung des § 48 LVwVfGBW ist auf die besonderen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Rücknahme von Einbürgerungsentscheidungen stellen, in keiner Weise zugeschnitten. Wesentliche Fragen der sachlichen und zeitlichen Reichweite der Rücknehmbarkeit von Einbürgerungen, über die der Gesetzgeber zu entscheiden hat, beantwortet die Vorschrift nicht, sondern überlässt sie der Klärung durch Behörden und Gerichte. Dies gilt auch für den konkreten Fall. Ob eine ausreichende Befugnisnorm für einen hoheitlichen Eingriff vorhanden ist, hängt zudem nicht von der Beschaffenheit des konkreten Einzelfalles ab. Die erforderliche gesetzgeberische Abwägung kann nicht durch ein Evidenzerlebnis ersetzt werden. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage ist von der materiellen Bewertung des Grundrechtseingriffs unabhängig.

c) Da der Senat mit Stimmengleichheit entschieden hat, kann ein Verstoß gegen das Grundgesetz nicht festgestellt werden (§ 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hatte daher keinen Erfolg.