Bundesverfassungsgericht

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Unterlassene Belehrung ausländischer Beschuldiger über ihr Recht auf konsularische Unterstützung

Pressemitteilung Nr. 99/2006 vom 25. Oktober 2006

Beschluss vom 19. September 2006
2 BvR 2115/01

Nach Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b des Wiener Konsularrechtsübereinkommens (WÜK), dem auch die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, ist ein festgenommener Ausländer unverzüglich über sein Recht zu belehren, die konsularische Vertretung seines Landes von der Festnahme benachrichtigen zu lassen. Diese Vorschrift war vor allem in den LaGrand- und Avena- Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof von Bedeutung: Im Januar 1982 überfielen die damals 18 und 19 Jahre alten Brüder Walter und Karl LaGrand im Bundesstaat Arizona gemeinsam eine Bank und erschossen dabei einen Menschen. Sie wurden 1984 von dem zuständigen Gericht Arizonas zum Tode verurteilt. Obwohl die beiden Brüder die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, wurden sie nicht über ihr Recht nach Art. 36 WÜK belehrt. Die Brüder wurden nach erfolglosen Rechtsmittelverfahren und Gnadengesuchen im Frühjahr des Jahres 1999 hingerichtet. Auf Klage der Bundesrepublik Deutschland gegen die USA entschied der Internationale Gerichtshof im Jahre 2001, dass die USA mangels Belehrung der Brüder gegen Art. 36 Abs. 1 WÜK verstoßen hätten. Art. 36 WÜK begründe auch Rechte des Einzelnen, die dem Empfangsstaat unmittelbar gegenüber festgehaltenen Personen oblägen. In einem von Mexiko gegen die USA angestrengten Verfahren, dem eine ähnliche Konstellation zugrunde lag, unterstrich der Internationale Gerichtshof erneut den (auch) subjektiv-rechtlichen Charakter der aus Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b WÜK folgenden Rechtspflichten (Avena-Entscheidung). Die USA seien verpflichtet, in den betroffenen Fällen die Möglichkeit einer Nachprüfung vor staatlichen Gerichten zu gewährleisten. Die Beschwerdeführer, darunter zwei türkische Staatsangehörige, sind wegen Tötungsdelikten zu - teilweise lebenslangen - Freiheitsstrafen verurteilt worden. Ihre Überzeugung von der Schuld der Beschwerdeführer stützten die Gerichte unter anderem auf die Angaben der türkischen Beschuldigten, die diese bei ihrer polizeilichen Vernehmung anlässlich ihrer Festnahme gemacht hatten. In den Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof machten die Beschwerdeführer geltend, dass die türkischen Staatsangehörigen bei ihrer Festnahme durch die Polizei nach Art. 36 WÜK hätten belehrt werden müssen. Der Verstoß gegen die Norm habe hinsichtlich deren Angaben ein Verwertungsverbot zur Folge. Der Bundesgerichtshof verwarf die Revisionen als unbegründet. Art. 36 Abs. 1 WÜK schütze den unmittelbar von einer Festnahme Betroffenen nicht vor eigenen unbedachten Aussagen, die dieser vor der entsprechenden Belehrung über seine diesbezüglichen Rechte gemacht habe.

Die hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerden hatten Erfolg. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob die angegriffenen Beschlüsse des Bundesgerichtshofs auf, da sie die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzten. Obwohl der Bundesgerichtshof von Verfassungs wegen verpflichtet gewesen sei, die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs zum Konsularrechtsübereinkommen zu berücksichtigen, habe er Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK in einer Weise ausgelegt, die derjenigen des Internationalen Gerichtshofs widerspreche. Die Sachen wurden an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen. Dieser muss nun klären, welche Folgen sich aus dem Verfassungsverstoß für die strafrechtlichen Verfahren ergeben.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen völkerrechtliche Verträge wie das Konsularrechtsübereinkommen, denen die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, im Range eines Bundesgesetzes (vgl. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Fachgerichte sind daher verpflichtet, Art. 36 WÜK ebenso wie das nationale Strafprozessrecht anzuwenden und auszulegen. Bei der Auslegung von Art. 36 WÜK haben sie die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs zum Konsularrechtsübereinkommen zu berücksichtigen. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes in Verbindung mit der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, welche die Entscheidungen eines völkerrechtlich ins Leben gerufenen internationalen Gerichts nach Maßgabe des Inhalts des inkorporierten völkerrechtlichen Vertrags umfasst.

Dabei ist die Berücksichtigungspflicht nicht auf die unter deutscher Beteiligung entschiedenen Einzelfälle begrenzt. Vielmehr muss der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags durch den Internationalen Gerichtshof über den entschiedenen Einzelfall hinaus eine normative Leitfunktion beigemessen werden, an der sich die Vertragsparteien zu orientieren haben. Voraussetzung hierfür ist, dass die Bundesrepublik Deutschland Partei des einschlägigen, die in Rede stehenden materiell-rechtlichen Vorgaben enthaltenen völkerrechtlichen Vertrags ist und sich - sei es wie im vorliegenden Fall durch das Fakultativprotokoll zum Konsularrechtsübereinkommen, sei es durch einseitige Erklärung - der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs unterworfen hat.

2. Der Bundesgerichtshof hat Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK in den angegriffenen Beschlüssen in einer Weise ausgelegt, die derjenigen des Internationalen Gerichtshofs widerspricht. Anders als der Bundesgerichtshof kam dieser zu dem Ergebnis, dass Art. 36 Abs. 1 WÜK ein subjektives Recht auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte einräume. Zweck der Belehrung sei es, dass der Einzelne in den Genuss der Unterstützung seines Heimatstaats kommen könne. Eine Verletzung dieses Rechts ziehe die Revisibilität des Strafurteils nach sich.

Vor diesem Hintergrund ist von einer Konventionsverletzung immer dann auszugehen, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Einzelne ein bestimmtes prozessuales Recht wie die Aussagefreiheit aufgrund der fehlenden konsularischen Unterstützung nicht in vollem Umfang wahrnehmen konnte, und dies nicht revisibel ist. Daraus folgt allerdings nicht, dass im Falle eines Belehrungsfehlers nach Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK zwingend von der Unverwertbarkeit der zustande gekommenen Beweisergebnisse auszugehen ist.

3. Die sich aus dem Verstoß gegen die Berücksichtigungspflicht ergebenden Rechtsfolgen sind verfassungsrechtlich nicht festgelegt. Soweit der Bundesgerichtshof im Rahmen der erneut auf Grundlage der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs vorzunehmenden Auslegung von Art. 36 WÜK zu dem Ergebnis gelangt, dass die schwurgerichtlichen Urteile verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind, ist es seine Aufgabe, die sich aus diesem Verfahrensfehler ergebenden Konsequenzen festzustellen.