Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsrechtliche Vorgaben im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren

Pressemitteilung Nr. 61/2007 vom 5. Juni 2007

Beschluss vom 16. Mai 2007
2 BvR 93/07

Der Beschwerdeführer wurde 1997 wegen Mordes und Totschlags zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen des Landgerichts Aachen hat der Beschwerdeführer in einem Nachtclub zwei Personen erschossen. Hinsichtlich des ersten Tatopfers ging das Gericht von dem Mordmerkmal der Heimtücke aus, da der Beschwerdeführer dem völlig überraschten Opfer in den Rücken geschossen habe. Die beiden weiteren frontal auf das Opfer gezielten Schüsse seien erst abgegeben worden, nachdem sich das Opfer im Rahmen einer Abwehrbewegung zum Beschwerdeführer hingedreht hatte.

Im Jahr 2005 beantragte der Beschwerdeführer die Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Unter Hinweis auf ein rechtsmedizinisches und ein kriminalbiologisches Gutachten behauptete der Beschwerdeführer, dass nicht bereits der erste, sondern erst der dritte Schuss das Opfer in den Rücken getroffen habe. Zu diesem Zeitpunkt sei das Opfer nicht mehr arglos gewesen. Das Landgericht und das Oberlandesgericht Köln verwarfen den Wiederaufnahmeantrag als unbegründet. Dabei stellte das Oberlandesgericht bezüglich der Reihenfolge des Schusswechsels Erwägungen über mögliche alternative Geschehensabläufe an und kam zu dem Ergebnis, dass auch unter Berücksichtigung solcher Abläufe der Schusswechsel wie vom Schwurgericht angenommen erfolgt sei.

Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts auf, da sie das Recht des Beschwerdeführers auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes verletzen. Die Sache wurde an das Landgericht zur erneuten Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Dem Wiederaufnahmegericht ist es verfassungsrechtlich verwehrt, im Wege der Eignungsprüfung Beweise zu würdigen und Feststellungen zu treffen, die nach der Struktur des Strafprozesses der Hauptverhandlung vorbehalten sind. Für die Feststellung strafrechtlicher Schuld steht nach dem Willen des Gesetzgebers allein die Hauptverhandlung zur Verfügung. Sie ist von Rechts wegen so ausgestaltet, dass sie die größtmögliche Gewähr sowohl für die Erforschung der Wahrheit wie für die bestmögliche Verteidigung des Angeklagten bietet. Der Angeklagte kann dort Beweisanträge stellen, Zeugen befragen und sonst auf Gang und Ergebnis des Verfahrens in dem näher geregelten Maße Einfluss nehmen. Diese Möglichkeiten sind ihm abgeschnitten, wenn die in der Hauptverhandlung getroffene, jedoch unhaltbar gewordene oder ernstlich in Frage gestellte, Feststellung einer wesentlichen, den Schuldspruch begründenden Tatsache im Nachhinein durch eine andere ersetzt wird, die ohne Hauptverhandlung ermittelt wurde. Dies verbietet es, ohne erneute Hauptverhandlung, den festgestellten unmittelbaren Tatverlauf in einer Kernfrage der Beweisaufnahme durch einen anderen zu ersetzen oder eine Erschütterung der betreffenden Feststellungen unter Verweis auf denkbare alternative Verläufe für unmaßgeblich zu erklären. Dies hat das Oberlandesgericht jedoch bezüglich der vom Schwurgericht festgestellten Drehung des Opfers getan, indem es Erwägungen über mögliche alternative Geschehensabläufe angestellt hat. Dadurch hat das Oberlandesgericht dem Beschwerdeführer die Möglichkeit genommen, auf den Prozess der Wahrheitsfindung in einer wesentlichen Frage angemessen einzuwirken.