Bundesverfassungsgericht

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Anforderungen für die Verurteilung auf Abdruck einer Gegendarstellung bei mehrdeutigen Äußerungen

Pressemitteilung Nr. 5/2008 vom 22. Januar 2008

Beschluss vom 19. Dezember 2007
1 BvR 967/05

Die Beschwerdeführerin veröffentlichte im Jahr 2004 in ihrer Wochenzeitschrift einen Artikel über eine zivilgerichtliche Verurteilung einer Privatperson zur Rückzahlung von Entschädigungszahlungen in Höhe von 35,7 Mio. €. Diese habe nach Auffassung des Gerichts zu Unrecht Leistungen für ein angeblich in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verloren gegangenes Aktienvermögen erlangt.

Die von dem Artikel Betroffene erwirkte vor den Zivilgerichten den Abdruck einer Gegendarstellung. Das Oberlandesgericht hat dies auf die Erwägung gestützt, dass der Artikel zwar nicht zwingend die Eindrücke erwecke, gegen die sich die Betroffene mit ihrer Gegendarstellung wende. Derjenige, der eine Äußerung aufstelle oder verbreite, müsse sich aber dann, wenn diese in unterschiedlichem Sinne aufgefasst werden könne, im Rahmen von Gegendarstellungsansprüchen grundsätzlich jede vertretbare, jedenfalls nicht fern liegende Interpretationsmöglichkeit, also auch jeden nicht fern liegenden Eindruck entgegenhalten lassen. Auf die Verfassungsbeschwerde der Verlegerin hin hob die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die angegriffenen Entscheidungen auf, da sie die Beschwerdeführerin in ihrer Pressefreiheit verletzen. Die Sache wurde an das Landgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die durch die Gegendarstellung beanstandeten Tatsachenbehauptungen waren in der Erstmitteilung nicht offen ausgesprochen worden, sondern waren nach Auffassung der Gerichte in ihr verdeckt erfolgt. Zeigt sich, dass ein erheblicher Teil eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums der Äußerung neben den offenen auch verdeckte, zu den offenen Aussagen abweichende Inhalte entnimmt, so ist bei der weiteren Prüfung auch von diesen Inhalten auszugehen. Ist - wie hier - nicht eindeutig, ob hinter der offenen Aussage auch eine verdeckte steht, ist darüber zu entscheiden, nach welchen Grundsätzen sich die Behandlung solcher mehrdeutiger Äußerungen im Hinblick auf Gegendarstellungsansprüche richtet.

Die rechtliche Behandlung mehrdeutiger Äußerungen kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts je nach dem Typ des jeweils erhobenen Anspruchs zu unterschiedlichen Maßstäben führen:

Das Bundesverfassungsgericht geht bei der Überprüfung eines Strafurteils oder von zivilrechtlichen Verurteilungen zum Schadensersatz, zur Entschädigung oder zur Berichtigung von dem Grundsatz aus, dass die Meinungsfreiheit verletzt wird, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zu einer Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt, ohne vorher mit nachvollziehbaren Gründen Deutungen ausgeschlossen zu haben, welche die Sanktion nicht zu rechtfertigen vermögen. Müsste der Äußernde befürchten, wegen einer erfolgten Meinungsäußerung verurteilt zu werden, obgleich Formulierung und Umstände der Äußerung auch eine nicht zur Verurteilung führende Deutung zulassen, könnte dies zur Unterdrückung einer zulässigen Äußerung führen und es könnten Einschüchterungseffekte eintreten, die dem Grundrecht der Kommunikationsfreiheit zuwiderliefen.

Im Hinblick auf Ansprüche auf Unterlassung zukünftiger Äußerungen geht das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 114, 339 "Stolpe") allerdings davon aus, dass verfassungsrechtlich erhebliche Einschüchterungseffekte für den sich Äußernden durch Maßnahmen des Persönlichkeitsschutzes nicht ausgelöst werden, soweit der Äußernde die Möglichkeit hat, die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts eines anderen ohne übermäßige Belastungen für sich durch eigenes Tun abzuwehren. Bei mehrdeutigen Äußerungen kann dies durch Klarstellung ihres Inhalts geschehen. Soweit eine nunmehr eindeutige Aussage keine Rechtsverletzung bewirkt, entfällt ein Unterlassungsanspruch. Die Gerichte sind in den angegriffenen Entscheidungen davon ausgegangen, dass diese für Unterlassungsansprüche geltenden Grundsätze auf das Recht der Gegendarstellung anwendbar sind. Das aber hat die Kammer verneint.

Auch bei der Klärung, ob wegen einer mehrdeutigen Aussage ein Anspruch auf Gegendarstellung besteht, ist das Ziel maßgebend, Einschüchterungseffekte für den Äußernden nach Möglichkeit zu vermeiden. Die Erreichung dieses Ziels lässt sich nicht hinreichend sichern, wenn die für Unterlassungsansprüche geltenden Grundsätze für den Umgang mit mehrdeutigen Äußerungen auf Erstmitteilungen angewandt werden, gegen die sich Gegendarstellungen richten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Presse nur in seltenen Ausnahmefällen eine Möglichkeit hat, die Veröffentlichung einer Entgegnung des Betroffenen durch Angabe einer Klarstellung oder Berichtigung der Äußerung abzuwehren. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass der Abdruck einer Gegendarstellung einen nur schwer ausgleichbaren Imageschaden für das zum Abdruck verpflichtete Presseunternehmen bewirken kann. Die bei einer Verurteilung zum Abdruck der Gegendarstellung offen bleibenden Fragen der Wahrheit und Rechtmäßigkeit einer Berichterstattung vermag die Leserschaft regelmäßig nicht selbst zu klären. Der Abdruck einer Gegendarstellung kann bei den Lesern deshalb Zweifel und Misstrauen auch gegenüber einer wahrheitsgemäßen und rechtlich nicht zu beanstandenden Berichterstattung wecken, die sich nachträglich kaum mehr beseitigen lassen. Solche Nachteile müssen zwar in beschränktem Umfang um des Schutzes des von einer Berichterstattung nachteilig Betroffenen Willen hingenommen werden, der einer Presseäußerung regelmäßig nicht mit Aussicht auf gleiche publizistische Wirkung entgegentreten kann. Die Hinnahme solcher Nachteile stößt aber auf verfassungsrechtliche Bedenken, wenn dem gewichtige gegenläufige Belange des Schutzes der Pressefreiheit entgegenstehen.

Viele Sachverhalte lassen sich auf dem beschränkten Raum, der für einen Pressebericht meist nur zur Verfügung stehe, nicht derart vollständig darstellen, dass unterschiedliche Eindrücke der Leserschaft ausgeschlossen werden. Auch können die veröffentlichten Rechercheergebnisse noch nicht vollständig sein, dürfen aber dennoch schon der Öffentlichkeit mitgeteilt werden, so dass Raum für Mutmaßungen bleibt, welche weiteren Details mit dem Berichteten zusammen hängen. Werden solche Rahmenbedingungen pressemäßiger Arbeit bei der Ausgestaltung des Rechts der Gegendarstellung nicht hinreichend berücksichtigt, könnte die Presse mit Gegendarstellungsansprüchen überhäuft und in der Folge zu einer starken Zurückhaltung in ihrer Berichterstattung veranlasst sein. Diese würde dem Ziel widersprechen, auf ein hohes Maß an Informiertheit der Öffentlichkeit durch die Presse hinzuwirken.

Eine Verurteilung zur Gegendarstellung darf daher nicht schon dann ermöglicht werden, wenn eine "nicht fern liegende Deutung" bei der Ermittlung einer verdeckten Aussage einen gegendarstellungsfähigen Inhalt ergibt, wie die Fachgerichte vorliegend aber angenommen haben. Verfassungsrechtlich unbedenklich wäre es demgegenüber, würden die Gerichte den auch sonst bei verdeckten Äußerungen angewandten Maßstab zugrunde legen, ob sich eine im Zusammenspiel der offenen Aussagen enthaltene zusätzliche eigene Aussage dem Leser als unabweisbare Schlussfolgerung aufdrängen muss.

Unter Anwendung dieser Grundsätze entspricht das Vorgehen der Fachgerichte vorliegend nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wenn sie die Äußerungen mit solchen Inhalten als gegendarstellungsfähig ansehen, die sie als "nicht fern liegende Deutung" oder gar als "nicht fern liegenden Eindruck" verstehen.