Bundesverfassungsgericht

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Fernsehberichterstattung im Gericht außerhalb der mündlichen Verhandlung bei gewichtigem öffentlichem Informationsinteresse grundsätzlich zulässig

Pressemitteilung Nr. 9/2008 vom 29. Januar 2008

Beschluss vom 19. Dezember 2007
1 BvR 620/07

Am 19. März 2007 begann vor dem Landgericht Münster die Verhandlung gegen 18 Bundeswehrausbilder, die Rekruten in einer Kaserne im westfälischen Coesfeld misshandelt haben sollen. Im Vorfeld der Verhandlung ordnete der Vorsitzende der Strafkammer den Ausschluss von Foto- und Fernsehteams aus dem Sitzungssaal für einen Zeitraum von 15 Minuten vor Prozessbeginn und 10 Minuten nach Prozessende an. Auf Antrag des ZDF gab die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 15. März 2007 dem Vorsitzenden im Wege der Eilanordnung auf, dem Fernsehteam des ZDF die Anfertigung von Aufnahmen der im Sitzungssaal anwesenden Verfahrensbeteiligten zu ermöglichen und hierbei die Anwesenheit der Richter und Schöffen im Sitzungssaal zu gewährleisten. Soweit es an einem Einverständnis der Angeklagten mit einer Veröffentlichung ihres Bildnisses fehle, sei eine Anonymisierung ihrer Gesichter sicherzustellen (vgl. Pressemitteilung Nr. 30/2007 vom 16. März 2007).

Auch die Verfassungsbeschwerde des ZDF hatte Erfolg. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte fest, dass die Anordnung des Strafkammervorsitzenden die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht der undfunkfreiheit verletzt. Die Entscheidung ist mit 6 : 1 Stimmen ergangen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die öffentliche Kontrolle von Gerichtsverhandlungen wird durch die Anwesenheit der Medien und deren Berichterstattung grundsätzlich gefördert. Ebenso liegt es im Interesse der Justiz, mit ihren Verfahren und Entscheidungen auch im Hinblick auf die Durchführung mündlicher Verhandlungen öffentlich wahrgenommen zu werden. Zur Art und Intensität öffentlicher Wahrnehmung trägt die Veröffentlichung audiovisueller Darstellungen bei. Die mündliche Verhandlung selbst ist nach dem Gesetz in verfassungsgemäßer Weise den Ton- und Bildaufnahmen verschlossen; insoweit erfolgt die öffentliche Kontrolle von Gerichtsverhandlungen durch die Saalöffentlichkeit und die Berichterstattung darüber. Allerdings kann eine Vermittlung des Erscheinungsbildes eines Gerichtssaals und der in ihm handelnden Personen den Bürgern darüber hinaus eine der Befriedigung des Informationsinteresses dienende Anschaulichkeit von Gerichtsverfahren vermitteln. Dementsprechend gehen die Fachgerichte von einer grundsätzlichen Öffnung des Zeitraums vor Beginn und nach Schluss einer mündlichen Verhandlung sowie in den Verhandlungspausen für Medien unter Einschluss der Möglichkeit des Einsatzes von rundfunkspezifischen Aufnahme- und Verbreitungstechniken aus.

2. Durch sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden können aber Beschränkungen vorgesehen werden. Die Gestaltung der Anordnungen liegt im Ermessen des Vorsitzenden. Dieses Ermessen hat er unter Beachtung der Bedeutung der Rundfunkberichterstattung für die Gewährleistung öffentlicher Wahrnehmung und Kontrolle von Gerichtsverhandlungen sowie der einer Berichterstattung entgegenstehenden Interessen auszuüben und dabei sicherzustellen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Überwiegt das Interesse an einer Berichterstattung unter Nutzung von Ton- und Bewegtbildaufnahmen andere bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigende Interessen, ist der Vorsitzende verpflichtet, eine Möglichkeit für solche Aufnahmen zu schaffen.

a) Bei der Gewichtung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit ist der jeweilige Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens bedeutsam. Bei Strafverfahren ist insbesondere die Schwere der zur Anklage stehenden Straftat zu berücksichtigen, aber auch die öffentliche Aufmerksamkeit für den Prozess, etwa wegen seines Aufsehen erregenden Gegenstands. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit ist regelmäßig auch auf die Personen gerichtet, die als Mitglieder des Spruchkörpers oder als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft an der Rechtsfindung im Namen des Volkes mitwirken.

b) Zu berücksichtigen sind aber auch schutzwürdige Interessen, die einer Aufnahme und Verbreitung von Ton- und Bildaufnahmen entgegenstehen können. Zu den Schutzinteressen gehört das Persönlichkeitsrecht der Beteiligten, insbesondere das Recht am eigenen Bild. Hier ist zu berücksichtigen, dass zumindest ein Teil der Verfahrensbeteiligten sich regelmäßig in einer für sie ungewohnten und belastenden Situation befindet und sie zur Anwesenheit verpflichtet sind. Speziell auf Seiten der Angeklagten sind auch mögliche Prangerwirkungen oder Beeinträchtigungen des Anspruchs auf Achtung der Vermutung seiner Unschuld und von Belangen späterer Resozialisierung zu beachten, die durch eine identifizierende Medienberichterstattung bewirkt werden können. Hinsichtlich der Zeugen ist deren besondere Belastungssituation zu berücksichtigen, etwa wenn sie Opfer der Tat sind. Aber auch den als Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten oder Justizbediensteten am Verfahren Mitwirkenden steht ein Anspruch auf Schutz zu, der das Veröffentlichungsinteresse überwiegen kann, etwa wenn Veröffentlichungen von Abbildungen eine erhebliche Belästigung oder Gefährdung ihrer Sicherheit durch Übergriffe Dritter bewirken können. Zu den zu berücksichtigenden Schutzinteressen gehören darüber hinaus der Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, insbesondere die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung.

c) Die Ermessensentscheidung des Vorsitzenden hat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Ein Verbot von Ton- und Rundfunkaufnahmen ist nicht erforderlich, wenn dem Schutz kollidierender Belange bereits durch eine beschränkende Anordnung Rechnung getragen werden kann, insbesondere durch das Erfordernis einer Anonymisierung der Bildaufnahme solcher Personen, die Anspruch auf besonderen Schutz haben, sowie durch Anweisungen zu Standort, Zeit, Dauer und Art der Aufnahmen. Beeinträchtigungen des äußeren Ablaufs der Sitzung, die etwa durch die Enge des Saals bedingt sind, kann dadurch entgegengewirkt werden, dass nicht mehrere Kamerateams zugelassen werden, sondern eine so genannte Pool-Lösung gewählt wird.

3. Die angegriffene Anordnung des Vorsitzenden wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Es wurde nicht hinreichend berücksichtigt, dass das Verfahren den öffentlich viel diskutierten Vorwurf der Misshandlung von Rekruten der Bundeswehr durch die für ihre Ausbildung verantwortlichen Offiziere und Unteroffiziere betraf und sich deutlich aus dem Bereich des Alltäglichen heraushob, so dass die Aufklärung der Vorgänge auf großes öffentliches Interesse stieß. Eine die Entscheidungsfindung erschwerende Verunsicherung der Angeklagten als Folge von Bildaufzeichnungen des Geschehens im Sitzungssaal außerhalb der Hauptverhandlung durfte der Vorsitzenden nicht schematisch unterstellen. Es liegt nach dem Gegenstand des Verfahrens und der Person der Angeklagten, bei denen es sich durchweg um berufserfahrene Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr handelte, nicht ohne weiteres auf der Hand, dass Anlass zu solchen Befürchtungen bestanden hat. Das Interesse der Öffentlichkeit an bildlicher Dokumentation des Geschehens am Rande einer Hauptverhandlung schließt die mitwirkenden Richter einschließlich der Schöffen, sowie der Staatsanwälte und Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege ein. Den vom Vorsitzenden angeführten Problemen, die aus der räumlichen Enge des Sitzungssaals resultieren könnten, hätte durch geeignete Vorkehrungen Rechnung getragen werden können, etwa durch die Beschränkung der Aufnahmen im Rahmen einer Pool-Lösung.