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Neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur "Rügeverkümmerung" im Strafverfahren verfassungsgemäß

Pressemitteilung Nr. 21/2009 vom 5. März 2009

Beschluss vom 15. Januar 2009
2 BvR 2044/07

Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage der "Rügeverkümmerung" im Strafverfahren wahrt die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung und begegnet auch im Hinblick auf die Beschuldigtenrechte auf ein faires Verfahren und auf effektiven Rechtsschutz keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem oben genannten Beschluss.

Der Beschwerdeführer war wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. In der Revision machte er mit einer Verfahrensrüge geltend, der Anklagesatz sei in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht verlesen worden. Zum Beweis berief sich der Beschwerdeführer auf das Sitzungsprotokoll, in der die Verlesung des Anklagesatzes nicht beurkundet war. Der Vorsitzende der Strafkammer leitete daraufhin ein Protokollberichtigungsverfahren ein. Nachdem sämtliche Kammermitglieder, die Urkundsbeamtin und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erklärt hatten, dass der Anklagesatz tatsächlich verlesen worden sei, wurde das Protokoll entsprechend berichtigt.

Der für die Revision zuständige 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hielt die Verfahrensrüge für unbegründet, weil er die Protokollberichtigung als beachtlich ansah. An der beabsichtigten Verwerfung der Revision sah der Senat sich indes durch die bis dahin praktizierte Rechtsprechung zum "Verbot der Rügeverkümmerung" gehindert. Nach dieser bereits durch das Reichsgericht begründeten Rechtsprechung war eine Berichtigung des tatrichterlichen Protokolls für das Revisionsgericht ausnahmsweise unbeachtlich, wenn durch die Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Grundlage im Protokoll entzogen wurde.

Der 1. Strafsenat legte daher dem Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs die Sache zur Entscheidung vor. Dieser rückte von der bisherigen Rechtsprechung zum "Verbot der Rügeverkümmerung" ab und erkannte, dass durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden kann. Die Urkundspersonen hätten im Vorfeld einer rügeverkümmernden Protokollberichtigung allerdings den Beschwerdeführer anzuhören und - wenn dieser der Protokollberichtigung substantiiert widerspreche - die Protokollberichtigungsentscheidung zu begründen. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliege im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht, wobei im Zweifel das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung gelte. Auf der Grundlage dieser neuen Rechtsprechung zur Rügeverkümmerung verwarf der 1. Strafsenat die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet.

Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wies der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit folgender Begründung zurück:

Die Revisionsentscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs wahrt die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung. Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs ist in vertretbarer Weise davon ausgegangen, dass die Strafprozessordnung im Hinblick auf die Zulässigkeit und Beachtlichkeit "rügeverkümmernder" Protokollberichtigung eine Lücke aufweist, und hat diese Lücke in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise ausgefüllt. Die neue Rechtsprechung zur "Rügeverkümmerung" steht auch mit den Beschuldigtenrechten auf effektiven Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren im Einklang. Sie gewährt dem Angeklagten effektiven Schutz vor unberechtigten Protokollberichtigungen. Zudem ermöglicht die Zulassung "rügeverkümmernder" Protokollberichtigungen es den Gerichten, dem Phänomen der unwahren, auf das Protokoll gestützten Verfahrensrüge zu begegnen. Sie trägt damit dem verfassungsrechtlichen Anliegen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, dem Beschleunigungsgrundsatz und dem Gesichtspunkt des Opferschutzes Rechnung.

Im Einzelnen liegen der Entscheidung folgende Erwägungen zu Grunde:

Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Beachtlichkeit nachträglicher Protokollberichtigungen begegnet im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung keinen Bedenken. Die Auffassung der Revisionsgerichte, die Strafprozessordnung weise in Bezug auf die Zulässigkeit nachträglicher Protokollberichtigungen eine planwidrige Regelungslücke auf, ist nicht zu beanstanden. Das Gesetz selbst enthält keine Regelung zur nachträglichen Protokollberichtigung und auch den Motiven zur Strafprozessordnung sind insoweit keine eindeutigen Hinweise zu entnehmen. Die Motive erwähnen den Fall der nachträglichen Protokollberichtigung nicht.

Die neue Rechtsprechung setzt sich auch insoweit nicht über die in § 274 StPO niedergelegten Entscheidungen des Gesetzgebers hinweg, als sie annimmt, die ausschließliche Beweiskraft nach § 274 StPO gehe im Falle einer nachträglichen Protokollberichtigung grundsätzlich auf die berichtigte Fassung des Protokolls über. Der grundsätzliche Übergang der Beweiskraft auf die berichtigte Protokollfassung steht nicht im Widerspruch zu § 274 StPO. § 274 Satz 1 StPO spricht davon, dass die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch "das Protokoll" bewiesen werden kann, und lässt damit offen, welcher Protokollfassung - der ursprünglichen oder der berichtigten - im Falle einer nachträglichen Protokollberichtigung die ausschließliche Beweiskraft zukommen soll.

Auch die im Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vorgesehene Regelung, wonach die Beachtlichkeit rügeverkümmernder Protokollberichtigungen im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt, wahrt die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung. Nach § 274 StPO darf zwar die Beachtung dieser Förmlichkeiten grundsätzlich nicht zum unmittelbaren Gegenstand von Beweiserhebungen im Rechtsmittelzug gemacht werden. Die Möglichkeit einer solchen Beweiserhebung unmittelbar über wesentliche Förmlichkeiten des Hauptverfahrens wird indes durch die neue Rechtsprechung nicht eröffnet. Vielmehr sind die Revisionsgerichte lediglich zu einer Überprüfung der "Beachtlichkeit der Protokollberichtigung" befugt und verpflichtet. Nur in diesem Rahmen haben die Revisionsgerichte auch die Beobachtung der wesentlichen Förmlichkeiten des Hauptverfahrens zu überprüfen.

Der Bundesgerichtshof hat die Grenzen richterlicher Rechtsfindung auch nicht überschritten, indem er das Verbot der Rügeverkümmerung aufgegeben hat. Es gehört zu den anerkannten Aufgaben der Rechtsprechung, im Rahmen der Gesetze von ihr als rechtsgrundsätzlich aufgestellte Rechtssätze zu überprüfen und sie, wenn erforderlich, weiter zu entwickeln. Der Umstand, dass ein im Wege richterlicher Rechtsfindung gewonnener Rechtssatz über einen langen Zeitraum Beachtung fand, mag in die Entscheidung einfließen, ob es gerechtfertigt ist, einen abweichenden Rechtssatz aufzustellen, er verleiht indes dem bisherigen Rechtssatz keine höhere Wertigkeit oder gar eine verfassungsrechtlich erhebliche Bestandsgarantie.

Der angegriffene Revisionsverwerfungsbeschluss verletzt den Beschwerdeführer auch nicht in seinen Rechten auf effektiven Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht - auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte - ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde.

Im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in den Blick zu nehmen. Das Rechtsstaatsprinzip, das die Idee der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil enthält, fordert nicht nur eine faire Ausgestaltung und Anwendung des Strafverfahrensrechts. Es gestattet und verlangt auch die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann. Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden.

Bei der Konkretisierung des Rechts auf ein faires Verfahren ist auch der verfassungsrechtliche Beschleunigungsgrundsatz zu berücksichtigen. Eine funktionstüchtige Strafrechtspflege erfordert nicht nur die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs überhaupt, sondern auch eine Durchsetzung innerhalb so kurzer Zeit, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen kann.

Nach diesen Grundsätzen begegnet der angegriffene Revisionsverwerfungsbeschluss keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Zulassung rügeverkümmernder Protokollberichtigungen ermöglicht den Gerichten, dem Phänomen der unwahren, auf das Protokoll gestützten Verfahrensrüge zu begegnen, und trägt damit dem verfassungsrechtlichen Anliegen einer effektiven Strafverfolgung, dem Beschleunigungsgrundsatz und dem Gesichtspunkt des Opferschutzes Rechnung. Die neue Rechtsprechung gewährt dem Angeklagten und Revisionsführer effektiven Schutz vor unberechtigten Protokollberichtigungen durch ein zu beachtendes Berichtigungsverfahren und eine Prüfungspflicht des Revisionsgerichts. Im Übrigen ergibt eine Gesamtbetrachtung der strafrechtlichen Revision, dass deren Koordinatensystem sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten keineswegs einseitig zu Lasten des Beschuldigten verschoben hat. Vielmehr stellt sich die Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung als Teil einer Gesamtentwicklung des Revisionsrechts dar, durch die die Gesichtspunkte der materiellen Wahrheit und der Einzelfallgerechtigkeit in den Vordergrund der revisionsgerichtlichen Überprüfung gerückt wurden.

Sondervotum des Vizepräsidenten Voßkuhle, der Richterin Osterloh und des Richters Di Fabio

Vizepräsident Voßkuhle, Richterin Osterloh und Richter Di Fabio sind der Auffassung, der Senat verkenne die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung.

Bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung richterlicher Rechtsfortbildung dürfe sich das Bundesverfassungsgericht nicht - wovon der Senat auszugehen scheine - auf eine bloße Vertretbarkeitsprüfung beschränken. Anders als bei der Kontrolle von Rechtsanwendungsfehlern, bei denen sich die eingeschränkte Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts aus funktionellrechtlichen Erwägungen rechtfertige, gehe es bei Überprüfung richterlicher Rechtsfortbildung um die Abgrenzung der Kompetenzen von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt. Dies sei eine originär verfassungsrechtliche Frage, bei der das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden habe, ob das Fachgericht unter Aufgabe seiner Gesetzesbindung einen hinreichend klar erkennbaren Willen des Gesetzgeber hintangestellt und durch eine eigene, für vorzugswürdig empfundene Regelungskonzeption ersetzt habe. Dabei komme es nicht darauf an, ob das vom Fachgericht eingeführte Verfahren tatsächlich zweckmäßiger oder sachgerechter als das gesetzliche Modell erscheine. Das Demokratieprinzip und das Funktionsgefüge des Grundgesetzes nähmen nachhaltig Schaden, könnte sich die Rechtsprechung immer dann über die eindeutige gesetzgeberische Grundentscheidung hinwegsetzen, wenn sie die Konsequenzen einer solchen Entscheidung als "unzweckmäßig" ansähe und der Gesetzgeber nicht wie "gewünscht" handelte. Klar erkennbare gesetzgeberische Regelungskonzepte seien vom Richter zu respektieren.

Nach diesen Maßstäben habe der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten, indem er ein Protokollberichtigungsverfahren mit der möglichen Rechtsfolge der Beachtlichkeit der berichtigten Fassung im Revisionsverfahren eingeführt und dadurch die in § 274 StPO klar zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Konzeption durch seine eigene, als vorzugswürdig empfundene Konzeption ersetzt habe.

Der Gesetzgeber habe sich mit § 274 StPO - vor dem Hintergrund bestehender alternativer Regelungsmodelle anderer Rechtsordnungen - ausdrücklich und mit ausführlicher Begründung für eine bestimmte Konzeption entschieden. Deren zentrales Kennzeichen sei, dass eine nachträgliche Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung wesentlicher Förmlichkeiten - gegen den protokollierten Sachverhalt - aus der Erinnerung von Verfahrensbeteiligten ausgeschlossen sein solle. Grund für die Wahl des Modells seien die Entlastung des Revisionsverfahrens und ebenso grundsätzliche wie nachvollziehbare Bedenken gegen die Erinnerungsfähigkeit von Verfahrensbeteiligten gewesen. Es habe verhindert werden sollen, dass eine nicht zur Tatsachenermittlung eingerichtete Instanz über Prozesshandlungen Beweis zu erheben und die Erinnerung der Beteiligten im Einzelfall als sicher oder unsicher zu überprüfen habe. Damit komme in § 274 StPO die Grundentscheidung des Gesetzgebers zum Ausdruck, im engen Anwendungsbereich der wesentlichen Förmlichkeiten Erwägungen der Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit den Vorzug vor der - vom Senat betonten - Erforschung der materiellen Wahrheit zu geben. An diese Grundentscheidung seien die Revisionsgerichte gebunden, auch wenn dies im Einzelfall zu dem "unerwünschten" Ergebnis der Aufhebung des Urteils und der Neuverhandlung der Sache führe. Die Grundentscheidung des Gesetzgebers komme in der Vorschrift des § 274 StPO klar zum Ausdruck, indem sie dem Protokoll absolute Beweiskraft verleihe und - außer bei erwiesener Protokollfälschung - jeden Nachweis gegen die Unrichtigkeit des beurkundeten Sachverhalts ausschließe.

Sondervotum des Richters Gerhardt

Richter Gerhardt stimmt der Entscheidung des Senats im Ergebnis zu, ist aber der Meinung, dass der Senat mit seinen Erwägungen zur Wahrung der Grenzen richterlicher Rechtsfindung die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts überschritten hat. Die Auslegung von Gesetzen und die Fortbildung des Rechts seien den in ein komplexes Rechtsmittelsystem eingebundenen Fachgerichten übertragen. Dieses System stelle - auch praktisch - sicher, dass Grundsatzfragen nicht in richterlicher "Selbstherrlichkeit", also ohne die Bereitschaft, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen, entschieden würden. Es sei nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, sich in die Rolle der Superrevisionsinstanz zu begeben und die Entscheidung eines obersten Bundesgerichts nachvollziehend auf ihre Vereinbarkeit mit dem, was das Bundesverfassungsgericht selbst und unter Umständen mit erheblichem Aufwand zur Rechtslage ermittelt habe, zu überprüfen.