Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerden in Sachen Private Krankenversicherung erfolglos

Pressemitteilung Nr. 59/2009 vom 10. Juni 2009

Urteil vom 10. Juni 2009
1 BvR 706/08

Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 10. Juni 2009 über mehrere Verfassungsbeschwerden entschieden, die sich gegen Vorschriften des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 26. März 2007 (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz) und gegen Normen des Gesetzes zur Reform des Vertragsversicherungsrechts vom 23. November 2007 richteten.

Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz hält das zweigliedrige Krankenversicherungssystem von gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufrecht, hat aber zum 1. Januar 2009 erhebliche Neuerungen eingeführt. Es begründet eine Versicherungspflicht für alle Einwohner Deutschlands in der gesetzlichen oder der privaten Krankenversicherung. Neben verschiedenen Neuregelungen, welche den Wettbewerb durch eine größere Vertragsfreiheit der Krankenkassen stärken sollen, zielt das Gesetz auf eine Verbesserung der Wahlrechte und Wechselmöglichkeiten in der privaten Krankenversicherung durch Einführung einer teilweisen Übertragbarkeit von Alterungsrückstellungen sowie die Einführung eines Basistarifs. Gesetzliche und private Krankenversicherung sollen als jeweils eigene Säule für die ihnen zugewiesenen Personenkreise einen dauerhaften und ausreichenden Versicherungsschutz gegen das Risiko der Krankheit auch in sozialen Bedarfssituationen sicherstellen.

Die dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerden von fünf Krankenversicherungsunternehmen und drei privat krankenversicherten Beschwerdeführern hat das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Die überprüften Vorschriften verletzen die Beschwerdeführer nicht in Grundrechten, insbesondere nicht in ihrer Berufs- und Vereinigungsfreiheit. Die dem Gesetz zugrunde liegenden Prognosen sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden; den Gesetzgeber trifft jedoch eine Beobachtungspflicht.

Maßgebend waren dafür folgende Erwägungen:

Die Vorschriften über den Basistarif in der privaten Krankenversicherung beschränken zwar die Berufsausübung der privaten Krankenversicherungsunternehmen. Sie sind aber im Hinblick auf die von ihnen verfolgten Ziele gerechtfertigt und derzeit nach der nicht zu beanstandenden Prognose des Gesetzgebers nicht als so schwerwiegend anzusehen, dass sie die Funktionsfähigkeit der privaten Krankenversicherung in Zukunft ausschließen. Zwar müssen die Unternehmen neben ihren Normaltarifen nunmehr zusätzlich einen Basistarif anbieten und dort auf Antrag Versicherungsschutz gewähren. Die sinnvolle Ausübung des Berufs eines privaten Krankenversicherers wird dadurch aber weder unmöglich noch nachhaltig erschwert. Soweit Personen den Basistarif wählen, könnten die Unternehmen zwar gezwungen sein, diese im Einzelfall zu nicht risikogerechten Prämien zu versichern, weil die Prämie im Basistarif in der Höhe begrenzt ist und Risikozuschläge und Leistungsausschlüsse nicht zulässig sind. Die möglicherweise eintretende Unterdeckung tragen jedoch nicht die Versicherungsunternehmen, sondern die Versicherten der privaten Krankenversicherung im Wege einer Umlage.

Dabei konnte der Gesetzgeber im Rahmen seines Prognosespielraums vertretbar davon ausgehen, dass der Basistarif auf absehbare Zeit keine bedeutsamen Auswirkungen auf das Geschäft der privaten Krankenversicherungen haben wird. Jedenfalls derzeit kann ausgeschlossen werden, dass viele Versicherte in den Basistarif wechseln werden. Denn für diesen Tarif muss eine hohe Prämie von rund 570 Euro monatlich gezahlt werden. Gleichzeitig bietet der Basistarif aber in seinen zentralen Leistungen nicht den üblichen Leistungsumfang der Normaltarife der privaten Krankenversicherung. Entgegen den Befürchtungen der Unternehmen konnte der Gesetzgeber deshalb davon ausgehen, dass es zur Finanzierung des Basistarifs mit seinen eventuell nicht kostendeckenden Prämien in den Normaltarifen der privaten Krankenversicherung nicht zu überproportionalen Prämiensteigerungen kommen werde und dass dies in Zukunft zu keinem erheblichen Wechsel in den Basistarif führen werde, der auf Dauer das gesamte Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherung zerstören würde. Sollte sich diese vertretbare Prognose in Zukunft als Irrtum darstellen, wäre der Gesetzgeber gegebenenfalls zur Korrektur verpflichtet.

Für das im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz formulierte Ziel, allen Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz in der gesetzlichen oder in der privaten Krankenversicherung zu sichern, kann sich der Gesetzgeber auf das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes berufen. Die Verbindung von Versicherungspflicht und Kontrahierungszwang im Basistarif ist zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet, dem der privaten Krankenversicherung zugewiesenen Personenkreis einen ausreichenden und bezahlbaren Krankenversicherungsschutz zu gewährleisten. Ohne den Kontrahierungszwang hätten insbesondere Personen mit gravierenden Vorerkrankungen keine Möglichkeit, in eine private Krankenversicherung aufgenommen zu werden, weil diese sie wegen des erhöhten Risikos nicht aufnehmen würde. Auch mit den weiteren Vorschriften zum Basistarif hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten; insbesondere war er nicht verpflichtet, den Basistarif auf eine minimale Grundsicherung zu beschränken.

Das durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz eingeführte absolute Kündigungsverbot für Krankenkostenvollversicherungen ist ein gerechtfertigter Eingriff, damit die Mitglieder der privaten Krankenversicherung in gleicher Weise wie im Rahmen der öffentlichrechtlichen Versicherung umfassend, rechtssicher und dauerhaft abgesichert sind. Gleiches gilt für die Pflicht der Unternehmen, ihren Versicherten selbst im Fall des Zahlungsverzugs eine Notversorgung erbringen zu müssen.

Die Einführung einer teilweisen Portabilität der Alterungsrückstellungen für Neukunden der privaten Krankenversicherung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Die bisher von den Unternehmen ausnahmslos gewählte Vertragsgestaltung, wonach bei einer Kündigung des Versicherungsvertrags kein Anspruch auf Übertragung der für den Versicherungsnehmer gebildeten Alterungsrückstellung bestand, ist damit für die Zukunft ausgeschlossen. Dieser Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Krankenversicherungsunternehmen ist durch legitime Gemeinwohlinteressen gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolgt mit der Portabilität der Alterungsrückstellungen das Ziel, im Markt der privaten Krankenversicherungen einen funktionierenden Wettbewerb herzustellen und den Versicherten einen Wechsel zu einem anderen Versicherungsunternehmen zu erleichtern. Die beschwerdeführenden Unternehmen haben im Verfahren selbst eingeräumt, dass es für Bestandskunden der privaten Krankenversicherung ab einem gewissen Alter bisher praktisch unmöglich war, ihre Krankenversicherung zu wechseln, weil der damit verbundene Verlust der Alterungsrückstellungen dazu führte, dass ein neuer Versicherer seine Kalkulationen ohne diese Rücklage vornehmen musste und deshalb erhöhte Prämien verlangte.

Die Einführung einer teilweisen Portabilität der Alterungsrückstellung stellt keinen wegen der Gefahr einer Risikoselektion im Bestand der Unternehmen unzumutbaren Eingriff dar. Zwar setzt die dauerhafte Erfüllbarkeit der Krankenversicherungsverträge durch die Unternehmen jedenfalls im Grundsatz voraus, dass sich unter ihren Versicherungsnehmern in ausreichendem Maße solche mit guten Risiken befinden. Ein stetiges Abwandern von Versicherten mit guten Risiken mit der Folge, dass in einem Unternehmen nur noch Menschen mit schlechten Risiken und hohen Krankheitskosten versichert sind, könnte letztlich bis hin zur Insolvenz des Unternehmens führen. In der Reformdiskussion der Vergangenheit wurden deshalb Modelle abgelehnt, die eine Übertragbarkeit der vollen kalkulierten Alterungsrückstellung vorsahen, weil sie die Gefahr einer unvertretbaren Risikoselektion und Entmischung in sich tragen würden. Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz sieht jedoch nicht die Übertragung der vollen kalkulierten Alterungsrückstellung, sondern lediglich deren Übertragung im Umfang der dem Basistarif entsprechenden Leistungen vor. Bei einem Versichererwechsel wird daher auch unter der Geltung des neuen Rechts ein erheblicher Anteil der für den Versicherungsnehmer in seinem Normaltarif gebildeten Alterungsrückstellung bei dem bisherigen Unternehmen verbleiben. Die Neuregelung erhöht zwar das Risiko einer Abwanderung von Versicherten, bietet aber auch gesteigerte Chancen, durch Wechsel Kunden hinzuzugewinnen. Der Wettbewerb zwischen den Versicherungsunternehmen wird damit auf verträgliche Weise gefördert.

Auch die zeitlich auf das erste Halbjahr 2009 begrenzte Einführung einer teilweisen Portabilität bei Verträgen, die vor dem 1. Januar 2009 abgeschlossen worden sind, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es handelt sich um eine die Unternehmen lediglich gering belastende Regelung, denn die Mitnahme eines Teils der Alterungsrückstellung wird lediglich in dem Basistarif ermöglicht, der jedoch für den durchschnittlichen Versicherten der privaten Krankenversicherung wegen seines schlechteren Leistungsniveaus bei gleichzeitig hoher Prämie ökonomisch in der Regel nicht interessant ist. Die von den beschwerdeführenden Unternehmen als Anreiz zum Wechsel beanstandete Möglichkeit, aus dem Basistarif sofort in den Normaltarif des aufnehmenden Unternehmens zu wechseln, ist durch eine Ende 2008 erfolgte Rechtsänderung faktisch beseitigt worden.

Die von einem bisher privat krankenversicherten Beschwerdeführer, aber auch von verschiedenen Krankenversicherungsunternehmen angegriffene Vorschrift des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V in der Fassung durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Genügte es bei Arbeitern und Angestellten für die Befreiung von der Versicherungspflicht bisher, dass ihr regelmäßiges Arbeitsentgelt in einem Jahr über einem bestimmten Betrag lag (Jahresarbeitsentgeltgrenze), so muss es nun in drei aufeinander folgenden Kalenderjahren darüber liegen, bevor Versicherungsfreiheit eintritt. Die Regelung ist den betroffenen Versicherten zumutbar. Der Gesetzgeber hat lediglich den Zeitraum verlängert, in dem Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung verbleiben müssen, bevor sie sich für einen Wechsel in die private Krankenversicherung entscheiden können. Damit sollen insbesondere Beschäftigte, welche zuvor unter Umständen jahrzehntelang als beitragsfrei Familienversicherte, als Auszubildende oder Berufsanfänger mit geringem Arbeitsentgelt von den Leistungen der Solidargemeinschaft profitiert haben, bei ihrem erstmaligen Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze für einen gewissen Zeitraum weiterhin an die Solidargemeinschaft gebunden werden. Aber auch für Personen wie akademische Berufsanfänger, die nach bisherigem Recht schon mit der erstmaligen Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung aufgrund der Höhe ihres Verdienstes versicherungsfrei waren, ist die Versicherungspflicht für mindestens drei Jahre zumutbar. Der Gesetzgeber kann den Nachweis des Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze davon abhängig machen, dass diese Überschreitung von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stetigkeit ist.

Die Entscheidung zur Dreijahresfrist ist im Stimmenverhältnis 5:3, im Übrigen ist die Entscheidung einstimmig ergangen.