Bundesverfassungsgericht

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Rückwirkung im Steuerrecht II: Absenkung der Beteiligungsquote bei der Besteuerung privater Veräußerungen von Kapitalanteilen teilweise verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 65/2010 vom 19. August 2010

Beschluss vom 07. Juli 2010
2 BvR 748/05

Die Gewinne aus der Veräußerung von im Privatvermögen gehaltenen Anteilen an einer Kapitalgesellschaft unterlagen nach der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Rechtslage als Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Einkommensteuer, wenn der Steuerpflichtige innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Veräußerung - das heißt zu irgendeinem Zeitpunkt innerhalb dieses Zeitraums - zu mehr als 25 % beteiligt war. Nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998 wurde die Beteiligungsgrenze durch das am 31. März 1999 verkündete Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 auf 10 % gesenkt (§ 17 Abs. 1 Satz 4 EStG). Nach § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG galt die Neuregelung ab dem Veranlagungszeitraum 1999, bezog aber - rückwirkend - auch Beteiligungsverhältnisse ein, die bereits vor ihrer Verkündung begründet worden waren.

Die Beschwerdeführer hielten jeweils Beteiligungen an einer GmbH unterhalb der alten, aber oberhalb der neuen Wesentlichkeitsgrenze in Höhe von 10 % bis zu 24,02 %, wobei eine Beschwerdeführerin noch im Jahr 1998 einen Teil im Hinblick auf die zu erwartende Rechtsänderung ihrem Ehemann übertrug, wodurch sich ihre Beteilung unter 10 % verringerte. Im Übrigen veräußerten die Beschwerdeführer ihre Anteile teilweise vor der Verkündung der Neuregelung (am 11. März 1999), teilweise aber auch erst danach (im Juni 1999 bzw. am 23. Juli 2001). Das Finanzamt wandte in allen Fällen die abgesenkte Wesentlichkeitsgrenze an und rechnete die Veräußerungsgewinne dem zu versteuernden Einkommen zu. Diese Entscheidungen wurden auf die Klagen der Beschwerdeführer letztlich durch den Bundesfinanzhof bestätigt.

Auf die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 17 Abs. 1 Satz 4 i. V. m. § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 wegen Verstoßes gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes teilweise verfassungswidrig ist. Die zehnprozentige Beteiligungsgrenze als solche ist dagegen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die maßgeblichen letztinstanzlichen Entscheidungen sind aufgehoben und die Verfahren zur erneuten Entscheidung an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen worden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Eine grundsätzlich unzulässige "echte" Rückwirkung, bei der die gesetzlichen Rechtsfolgen schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände eintreten sollen ("Rückbewirkung von Rechtsfolgen"), liegt nicht vor. Denn die abgesenkte Wesentlichkeitsgrenze kommt erst ab dem im Zeitpunkt der Änderung noch laufenden Veranlagungszeitraum zur Anwendung, d. h. für Veräußerungserlöse, die ab dem 1. Januar 1999 zugeflossen sind. Es liegt aber eine "unechte" Rückwirkung vor, soweit die Beteiligung im Zeitpunkt der Verkündung der Neuregelung am 31. März 1999 bereits bestand, weil die Anwendung der verringerten Beteiligungsgrenze insoweit an einen zurückliegenden Sachverhalt anknüpft. Das ist zwar nicht grundsätzlich unzulässig, mit den grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes aber nur vereinbar, wenn die Rückanknüpfung zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt. Das ist bei der rückwirkenden Absenkung der Beteiligungsgrenze nur teilweise der Fall.

Soweit sich der einkommensteuerliche Zugriff auf die erst nach der Verkündung der Neuregelung eintretenden Wertsteigerungen beschränkt, begegnet dies unter Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, auch wenn die entsprechenden Wertsteigerungen nach Maßgabe des alten Rechts steuerfrei gewesen wären. Zwar kann der Erwerb einer Beteiligung in einer bestimmten Höhe maßgeblich von der Erwartung bestimmt sein, etwaige Wertsteigerungen steuerfrei realisieren zu können. Die bloße Möglichkeit, Gewinne später steuerfrei vereinnahmen zu können, begründet aber keine (vertrauens-)rechtlich geschützte Position. Mit Wertsteigerungen kann im Zeitpunkt des Erwerbs nicht sicher gerechnet werden, so dass auch die Enttäuschung der Hoffnung auf künftige steuerfreie Vermögenszuwächse nicht als Beeinträchtigung greifbarer Vermögenswerte zu werten ist.

Die Anwendung der abgesenkten Beteiligungsgrenze verstößt aber gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und ist nichtig, soweit ein im Zeitpunkt der Verkündung bereits eingetretener Wertzuwachs der Besteuerung unterworfen wird, der nach der zuvor geltenden Rechtslage bereits steuerfrei realisiert worden ist oder zumindest bis zur Verkündung steuerfrei hätte realisiert werden können, weil die alte Beteiligungsgrenze nicht überschritten war. Insoweit war bereits eine konkret verfestigte Vermögensposition entstanden, die durch die rückwirkende Absenkung der Beteiligungsgrenze nachträglich entwertet wird. Diese führt zudem zu einer Ungleichbehandlung, die unter dem Gesichtspunkt der Lastengleichheit einer erhöhten Rechtfertigung bedarf. Denn bei denjenigen Steuerpflichtigen, die ihre nach altem Recht unwesentlichen Beteiligungen bereits bis Ende 1998 veräußerten, bleiben die bis dahin erzielten Wertsteigerungen steuerfrei.

Hinreichend gewichtige Gründe, die geeignet sind, die nachträgliche einkommensteuerliche Belastung bereits entstandener, steuerfrei erworbener Wertzuwächse zu rechtfertigen, bestehen nicht. Die bloße Absicht, staatliche Mehreinkünfte zu erzielen, ist für sich genommen grundsätzlich kein den Vertrauensschutz betroffener Steuerpflichtiger überwindendes Gemeinwohlinteresse, denn dies würde bedeuten, dass der Vertrauensschutz gegenüber rückwirkenden Verschärfungen des Steuerrechts praktisch leerliefe. Auch das Bedürfnis, mit den Mehreinnahmen an anderer Stelle gewährte Steuererleichterungen zu finanzieren, bezeichnet nur einen allgemeinen Änderungsbedarf, der es rechtfertigt, Wertsteigerungen ab der Verkündung steuerlich zu erfassen, aber nicht gerade auch die rückwirkende Einbeziehung bereits steuerfrei erzielter Vermögenszuwächse legitimiert.

Der in der Gesetzesbegründung genannte Aspekt der Missbrauchsbekämpfung rechtfertigt als in erster Linie in die Zukunft gerichtetes Änderungsinteresse ebenfalls nicht den Zugriff auf bereits eingetretene steuerfreie Wertsteigerungen. Im Übrigen handelt es sich bei der Erschwerung missbräuchlicher Gestaltungen um einen Nebeneffekt, der nur besonders gelagerte Einzelfälle betrifft, denn generell ist die steuerfreie Veräußerung einer Beteiligung nicht rechtsmissbräuchlich. Zwar besteht auch jenseits der Missbrauchsbekämpfung ein berechtigtes Interesse daran, etwaige Besteuerungslücken zu schließen. Damit ist jedoch ebenfalls nur ein generelles, nicht spezifisch die Rückwirkung legitimierendes Änderungsinteresse bezeichnet.

Eine solche Legitimation ergibt sich auch nicht aus der Schwierigkeit und Streitanfälligkeit einer Feststellung des Marktpreises zum Zeitpunkt der Verkündung, auf die die Gesetzesbegründung verweist, denn damit können allenfalls grobe Schätzungslösungen bei der Wertermittlung, nicht aber ein vollständiges Absehen davon gerechtfertigt werden.

Die zehnprozentige Beteiligungsgrenze als solche ist dagegen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die unterschiedliche einkommensteuerrechtliche Erfassung von Wertsteigerungen im Vermögen des Steuerpflichtigen ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Sie ist die systematische und insofern folgerichtige Konsequenz aus dem historisch gewachsenen Dualismus der Einkunftsarten und liegt innerhalb des Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber bei der Erschließung von Steuerquellen zukommt.