Bundesverfassungsgericht

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Einteilung der Wahlkreise auf der Grundlage der deutschen Wohnbevölkerung begründet keinen Wahlfehler bei der Bundestagswahl 2009

Pressemitteilung Nr. 12/2012 vom 22. Februar 2012

Beschluss vom 31. Januar 2012
2 BvC 3/11

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Wahlprüfungsbeschwerde zurückgewiesen, die sich gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag im Jahre 2009 richtet. Die Rüge des Beschwerdeführers betrifft die Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise.

Die Grundsätze hierfür sind in § 3 des Bundeswahlgesetzes (BWG) geregelt. Danach erfolgt die Einteilung der insgesamt 299 Wahlkreise auf der Grundlage der deutschen Wohnbevölkerung. Die Zahl der Wahlkreise in den Ländern muss deren Bevölkerungsanteil soweit wie möglich entsprechen. Die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises orientiert sich an der durchschnittlichen Bevölkerungszahl aller Wahlkreise und soll von dieser nicht um mehr als 15 % nach oben oder unten abweichen; bei einer Abweichung von mehr als 25 % ist eine Neuabgrenzung vorzunehmen. Bei der Ermittlung der Bevölkerungszahlen bleiben zwar Ausländer unberücksichtigt, die nicht wahlberechtigten Deutschen, darunter Minderjährige, gehen dagegen in die Bevölkerungszahl ein.

Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) werde dadurch verletzt, dass bei der Einteilung der Wahlkreise auf die deutsche Wohnbevölkerung und nicht auf die Zahl der Wahlberechtigten abgestellt werde. Damit seien annähernd gleiche Erfolgschancen der Erststimmen nicht gewährleistet, da der Anteil der Wahlberechtigten in den einzelnen Wahlkreisen unterschiedlich hoch sei.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat festgestellt, dass die Wahlkreiseinteilung für die Bundestagswahl 2009 den Anforderungen des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit genügt. Der Gesetzgeber hat jedoch künftig bei der Einteilung der Wahlkreise den Anteil der Minderjährigen an der Bevölkerung zu berücksichtigen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 GG) besagt, dass die Stimme jedes Wahlberechtigten den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Für die hier in den Blick zu nehmende Wahl der Abgeordneten in den Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlsystem fordert die Wahlrechtsgleichheit, dass alle Wähler auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise an der Wahl teilnehmen können. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Wahlkreiseinteilung regelmäßig zu überprüfen und erforderlichenfalls zu korrigieren. Dies gilt sowohl für den konkreten Zuschnitt der Wahlkreise als auch für die rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen ihrer Einteilung.

Die Wahlrechtsgleichheit unterliegt allerdings keinem absoluten Differenzierungsverbot. Dem Gesetzgeber steht bei der Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise vielmehr ein gewisser Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum zu. Schwankungen bei der Wahlkreisgröße sind dabei innerhalb des von Art. 38 Abs. 1 GG abgesteckten Rahmens insbesondere im Hinblick auf die angestrebte Verankerung der Abgeordneten in ihren Wahlkreisen sowie auf den steten Wandel der Bevölkerungszahlen hinnehmbar.

Die Wahlrechtsgleichheit gebietet grundsätzlich eine Einteilung der Wahlkreise auf der Grundlage der Zahl nur der Wahlberechtigten. Denn der Gleichheitsgrundsatz des Art. 38 Abs. 1 GG knüpft an die Trägerschaft des Wahlrechts an und beansprucht daher Geltung im Verhältnis der Wahlberechtigten untereinander. Die Wahlrechtsgleichheit wird allerdings auch bei Heranziehung der deutschen Wohnbevölkerung als Bemessungsgrundlage nicht beeinträchtigt, solange sich der Anteil der Minderjährigen an der deutschen Bevölkerung regional nur unerheblich unterscheidet: Bei einer annähernd gleichen Verteilung der Minderjährigen auf die Wahlkreise ist in allen Wahlkreisen eine hinreichend vergleichbare Stimmenzahl erforderlich, um ein Mandat zu erringen. Erst wenn sich nicht nur unerhebliche Abweichungen zwischen der Bevölkerung und der Zahl der Wahlberechtigten ergeben, kann eine Änderung der Wahlkreiseinteilung geboten sein.

2. Der Wahlgesetzgeber hat eine Wahlkreiseinteilung auf der Grundlage der deutschen Wohnbevölkerung bislang im Hinblick darauf für zulässig erachtet, dass sich der Anteil der Minderjährigen an der deutschen Bevölkerung regional nicht in zu berücksichtigender Weise unterscheidet. Ausweislich des herangezogenen statistischen Materials hat sich der Anteil Minderjähriger an der deutschen Bevölkerung jedoch nicht als so gleichmäßig erwiesen, dass Unterschiede in der regionalen Verteilung ohne weiteres zu vernachlässigen sind.

Dieser Befund ist zwar geeignet, die Annahme des Gesetzgebers einer annähernd gleichmäßigen Verteilung der Minderjährigen über das Wahlgebiet in Frage zu stellen, begründet jedoch auch unabhängig von der Frage einer Rechtfertigung durch das Repräsentationsprinzip nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG für die Wahl zum 17. Deutschen Bundestag noch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit. Der Gesetzgeber hat sich bei der Wahlkreiseinteilung an die in § 3 Abs. 1 BWG selbst gesetzten Vorgaben gehalten und damit die mit diesen Vorgaben zur Wahrung der Wahlrechtsgleichheit verfolgten Ziele einer transparenten und folgerichtigen Gesetzgebung beachtet. Seine Annahme einer im Wesentlichen gleichmäßigen Verteilung der minderjährigen Deutschen im Wahlgebiet ist für die Verteilung der Wahlkreise auf die Länder nach wie vor berechtigt. Dass diese Annahme nicht ohne weiteres für den Zuschnitt der einzelnen Wahlkreise gilt, begründet zumindest für die Wahl des 17. Deutschen Bundestags noch keinen Wahlfehler. Die Annahme einer annähernd gleichen regionalen Verteilung der minderjährigen Deutschen war bis dahin nicht in Frage gestellt worden. Auch fällt eine Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit durch die Anknüpfung an die Wohnbevölkerung allenfalls marginal aus. Bei der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag waren von erheblichen Abweichungen lediglich 15 der insgesamt 299 Wahlkreise und damit vergleichsweise wenige Fälle betroffen.

3. Allerdings wird der Gesetzgeber bei der Wahlkreiseinteilung künftig den Anteil Minderjähriger an der Bevölkerung sowohl bezogen auf die Länder als auch im Vergleich zwischen den einzelnen Wahlkreisen in den Blick zu nehmen haben.