Bundesverfassungsgericht

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Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die überlange Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens

Pressemitteilung Nr. 73/2012 vom 16. Oktober 2012

Beschluss vom 13. August 2012
1 BvR 1098/11

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die überlange Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens nicht zur Entscheidung angenommen. Dies folgt aus einem Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. August 2012. In Anbetracht des Rechts der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz begegnet zwar die Untätigkeit des Sozialgerichts über einen Zeitraum von 30 Monaten erheblichen Bedenken. Allerdings besteht mangels Wiederholungsgefahr kein Rechtsschutzbedürfnis dafür, eine überlange Dauer des - mittlerweile abgeschlossenen - Verfahrens durch das Bundesverfassungsgericht feststellen zu lassen. Denn angesichts des Ende 2011 in Kraft getretenen Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren stehen nunmehr Rechtsbehelfe innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit zur Verfügung.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Zwar begegnet die Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG erheblichen Bedenken. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte gegen Handlungen der öffentlichen Gewalt anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Dem Grundgesetz lassen sich keine allgemein gültigen Zeitvorgaben dafür entnehmen, wann von einer unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist. Vielmehr ist die Angemessenheit nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen. Dabei können insbesondere die Schwierigkeit der zu entscheidenden Materie, die Notwendigkeit von Ermittlungen in tatsächlicher Hinsicht, die Bedeutung des Verfahrens für die Prozessbeteiligten sowie deren eigenes Prozessverhalten von Bedeutung sein.

Vor diesem Hintergrund war die Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht nicht mehr angemessen. Insbesondere die Untätigkeit des Sozialgerichts über einen Zeitraum von 30 Monaten ist mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht vereinbar, sofern man den Umstand ausblendet, dass auch die Beschwerdeführerin selbst das Verfahren in dieser Zeit nicht betrieben hat. Zwar lässt sich der Verfassung keine konkrete Vorgabe dafür entnehmen, innerhalb welchen Zeitraums nach Abschluss der gerichtlichen Ermittlungen es zu einer mündlichen Verhandlung kommen muss. Aber jedenfalls ein Abwarten von 30 Monaten genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

Soweit die zuständige Landesjustizverwaltung in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht auf die knappe personelle Ausstattung des Sozialgerichts verweist, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Es obliegt den Ländern, in ihrem Zuständigkeitsbereich für eine hinreichende materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, damit diese ihrem Rechtsprechungsauftrag in einer Weise nachkommen können, die den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG genügt.

2. Gleichwohl ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Das fachgerichtliche Verfahren ist inzwischen abgeschlossen. Daher hat die Beschwerdeführerin kein Rechtsschutzbedürfnis mehr für ihr Ziel, durch das Bundesverfassungsgericht eine überlange Verfahrensdauer feststellen zu lassen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht unter der früheren Rechtslage ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis wegen Wiederholungsgefahr unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt. Jedoch ist am 3. Dezember 2011 das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren in Kraft getreten. Dadurch stehen - auch im sozialgerichtlichen Verfahren - fachgerichtliche Rechtsbehelfe gegen überlange Gerichtsverfahren zur Verfügung (§ 202 Satz 2 SGG in Verbindung mit §§ 198 ff. GVG). Diese schließen den Fortbestand einer Wiederholungsgefahr aus.