Bundesverfassungsgericht

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Dauerobservation eines entlassenen Sicherungsverwahrten kann nur vorläufig auf die polizeirechtliche Generalklausel gestützt werden

Pressemitteilung Nr. 82/2012 vom 4. Dezember 2012

Beschluss vom 08. November 2012
1 BvR 22/12

Auch im Eilrechtsschutzverfahren muss sich die verwaltungsgerichtliche Prüfung, ob die Dauerobservation eines aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Mannes rechtmäßig ist, auf hinreichend aktuelle Tatsachengrundlagen zur Einschätzung seiner Gefährlichkeit stützen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden und den Fall daher an das Verwaltungsgericht Freiburg zurückverwiesen. Nicht beanstandet hat die 1. Kammer des Ersten Senats, dass die Verwaltungsgerichte die polizeirechtliche Generalklausel im Eilrechtsschutzverfahren noch als ausreichende Rechtsgrundlage für die Dauerobservation des Beschwerdeführers angesehen haben. Die Generalklausel kann den Behörden ermöglichen, auf unvorhergesehene Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren. Das Schließen etwaiger Regelungslücken liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Entscheidungen im verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzverfahren über die längerfristige Observation des aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Beschwerdeführers.

a) Das Landgericht S. hatte den Beschwerdeführer im Jahre 1985 wegen zwei Vergewaltigungen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Mit Beschluss vom 10. September 2010 erklärte das Oberlandesgericht K. - im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - die Sicherungsverwahrung für erledigt. Mit der Entlassung des Beschwerdeführers aus der Sicherungsverwahrung hat die Polizeidirektion Freiburg die längerfristige Observation des Beschwerdeführers zunächst für die Dauer von vier Wochen angeordnet und diese Anordnung seither regelmäßig, das heißt seit nunmehr länger als zwei Jahren, verlängert.

b) Nach seinen im Ausgangsverfahren unwidersprochen gebliebenen Angaben bewohnt der Beschwerdeführer ein Zimmer in einer in einem Hinterhaus gelegenen Unterkunft. Im Hof vor diesem Hinterhaus parkt ständig ein Polizeifahrzeug, in dem sich drei Polizeibeamte aufhalten. Zwei weitere Beamte halten sich in der Küche der Unterkunft auf, wenn sich der Beschwerdeführer in seinem Zimmer befindet. Eine direkte Beobachtung des Beschwerdeführers in seinem eigentlichen Wohnraum findet nicht statt. Außerhalb seiner Wohnung begleiten ständig Polizisten den Beschwerdeführer. Bei Gesprächen des Beschwerdeführers mit Ärzten, Rechtsanwälten und Bediensteten von Behörden sind die Beamten angewiesen, Abstand zu halten. Nimmt der Beschwerdeführer ansonsten Kontakt zu Frauen auf, weisen die Polizisten sie mit einer sogenannten Gefährdetenansprache auf den Grund der Observation hin.

c) Einen Antrag des Beschwerdeführers, seine Observation im Wege der einstweiligen Anordnung zu unterbinden, lehnte das Verwaltungsgericht Freiburg mit Beschluss vom 16. August 2011 ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Beschluss vom 8. November 2011 zurück.

2. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen diese beiden Beschlüsse zur Entscheidungen an und gibt ihnen statt.

a) Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits entwickelt: Die Gerichte sind gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders wichtige Gründe entgegenstehen. Dann muss die Prüfung eingehend genug sein, um den Antragsteller vor erheblichen und unzumutbaren, anders weder abwendbaren noch reparablen Nachteilen effektiv zu schützen. Bei solchen Nachteilen können sich die Gerichte nur insoweit auf eine ansonsten ausreichende summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage beschränken, als dies durch besondere Gründe auch angesichts der in Frage stehenden Nachteile gerechtfertigt ist; außerdem müssen sie Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen.

b) Diesen Anforderungen entsprechen die Entscheidungen im Ausgangsverfahren nicht in jeder Hinsicht. Zunächst haben die Verwaltungsgerichte richtigerweise erkannt, dass die dauernde Observation des Beschwerdeführers einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstellt. Jedoch haben sie das besondere grundrechtliche Gewicht des Begehrens des Beschwerdeführers nicht ausreichend gewürdigt.

aa) Nicht zu beanstanden ist es allerdings, dass die Verwaltungsgerichte für das Eilrechtsschutzverfahren die polizeiliche Generalklausel im baden-württembergischen Polizeirecht als noch ausreichende Rechtsgrundlage für die dauerhafte Observation des Beschwerdeführers angesehen haben. Zwar ist es zweifelhaft, ob die geltende Rechtslage hinreichend differenzierte Rechtsgrundlagen enthält, die die Durchführung solcher Observationen auf Dauer tragen können. Vielmehr handelt es sich wohl um eine neue Form einer polizeilichen Maßnahme, die bisher vom Landesgesetzgeber nicht eigens erfasst worden ist und aufgrund ihrer weitreichenden Folgen möglicherweise einer ausdrücklichen, detaillierten Ermächtigungsgrundlage bedarf. Es begegnet jedoch keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Gerichte angesichts des Gewichts der in Frage stehenden Rechtsgüter die vorhandene Grundlage im vorläufigen Rechtsschutzverfahren als noch tragfähig ansehen und die Frage der Rechtsgrundlage erst im Hauptsacheverfahren einer abschließenden Klärung zuführen. Der Sache nach verstehen sie damit die polizeiliche Generalklausel dahingehend, dass sie es den Behörden ermöglicht, auf unvorhergesehene Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren, und ermöglichen so dem Gesetzgeber, eventuelle Regelungslücken zu schließen. Dies ist - bei Beachtung strenger Verhältnismäßigkeitsanforderungen - verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt dann in der Verantwortung des Gesetzgebers hierauf zu reagieren oder in Kauf zu nehmen, dass solche Maßnahmen von den Gerichten auf Dauer als von der geltenden Rechtslage nicht als gedeckt angesehen werden.

bb) Die angegriffenen Entscheidungen genügen jedoch aus einem anderen Grund nicht den Voraussetzungen für die gebotene Prüfungsintensität im Bereich des grundrechtsrelevanten einstweiligen Rechtsschutzes. Die Gerichte haben ihre Entscheidung maßgeblich auf ein psychiatrisches Gutachten vom 5. März 2010 gestützt. Die Begutachtung erfolgte zu einem Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer sich noch in Sicherungsverwahrung befand. Der Gutachter konnte allenfalls vermuten, wie der Beschwerdeführer sich nach Jahrzehnten der Haft und der Sicherungsverwahrung in Freiheit verhalten würde. Nunmehr lebt der Beschwerdeführer aber seit geraumer Zeit unter vollständig veränderten Umständen, die es nicht angezeigt erscheinen lassen, eine so weitreichende Entscheidung wie die über die Fortsetzung einer fast durchgehenden polizeilichen Beobachtung auf veraltete Vermutungen zu stützen.

Zum Hintergrund:

Die Polizeigesetze der Länder enthalten jeweils eine sogenannte Generalklausel (wie zum Beispiel § 1 in Verbindung mit § 3 des baden-württembergischen Polizeigesetzes). Sie regelt die Befugnisse der Polizeibehörden nur allgemein und in sehr offen formulierter Weise: Danach können diese zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung diejenigen Maßnahmen treffen, die ihnen nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erscheinen. Wegen der Unbestimmtheit und Offenheit dieser Klausel dürfen auf sie normalerweise nur Maßnahmen gestützt werden, die kein großes Eingriffsgewicht haben. Für besonders schwere Grundrechtseingriffe wie z. B. eine Wohnungsdurchsuchung oder eine Ingewahrsamnahme braucht die Polizei grundsätzlich spezielle Befugnisnormen, die die genauen Voraussetzungen und Bedingungen detailliert regeln und damit solche Maßnahmen näher begrenzen (z. B. durch besondere Anforderungen an die Dringlichkeit der Gefahr, an die Art der Gefahr - etwa das Erfordernis einer Leib- oder Lebensgefahr - oder an das Verfahren - etwa das Erfordernis einer vorherigen richterlichen Entscheidung -). Das baden-württembergische Polizeirecht kennt eine Rechtsgrundlage, die ausdrücklich auf die längerfristige Observation von gefährlichen Personen zum Schutz Dritter bezogen ist, nicht. Ob und wieweit die bestehenden Rechtsgrundlagen hierfür ausreichen, haben die Verwaltungsgerichte bisher noch nicht abschließend geklärt.