Bundesverfassungsgericht

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Nachträgliche Sicherungsverwahrung im Anschluss an psychiatrische Unterbringung nur unter engen Voraussetzungen zulässig

Pressemitteilung Nr. 13/2013 vom 27. Februar 2013

Beschluss vom 06. Februar 2013
2 BvR 2122/11

In einem heute veröffentlichten Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts seine Rechtsprechung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung bekräftigt. Bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Neuregelung, längstens jedoch bis 31. Mai 2013, darf diese nur noch ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung leidet. Die genannten Grundsätze gelten auch dann, wenn der Betroffene zuvor in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war. In diesen Fällen wird nicht lediglich eine unbefristete Maßregel durch eine andere ersetzt, sondern es handelt sich bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung um einen neuen, eigenständigen Grundrechtseingriff. Erfolgt dieser auf der Grundlage eines Gesetzes, das im Zeitpunkt der Verurteilung wegen der Anlasstaten noch nicht in Kraft getreten war, kommt den betroffenen Vertrauensschutzbelangen ein besonders hohes Gewicht zu.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen zugrunde:

1. § 66b des Strafgesetzbuches (StGB) regelt die nachträgliche Sicherungsverwahrung in Fällen, in denen während der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus festgestellt wird, dass der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand nicht (mehr) vorliegt. Mit Urteil vom 4. Mai 2011 hat das Bundesverfassungsgericht diese Vorschrift wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt (vgl. BVerfGE 128, 326 ). Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung dieser Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens jedoch bis zum 31. Mai 2013, angeordnet. Sie darf jedoch während der Fortgeltung nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden.

2. Mit den Verfassungsbeschwerden wenden sich die Beschwerdeführer gegen die Fortdauer der Sicherungsverwahrung, die nach Erledigung ihrer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nachträglich angeordnet worden ist.

a) Der Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 2122/11 befand sich nach vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe wegen mehrerer sexuell motivierter Gewaltverbrechen im Maßregelvollzug. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts erklärte die Unterbringung im April 2007 für erledigt, weil - anders als noch im Ausgangsurteil angenommen - kein Zustand vorgelegen habe, der die Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers ausgeschlossen oder vermindert habe. Im März 2008 ordnete das Landgericht seine nachträgliche Sicherungsverwahrung an, da er hochgefährlich sei. Einen Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung lehnte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts mit angegriffenem Beschluss vom 15. Juli 2011 ab. Mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung werde lediglich eine unbefristete freiheitsentziehende Maßregel durch eine andere ersetzt; der Beschwerdeführer werde daher im Ergebnis nicht schlechter gestellt. Die sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 22. August 2011.

b) Der Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 2705/11 war ebenfalls wegen mehrerer sexuell motivierter Gewaltverbrechen in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Nachdem ihm durch zwei Gutachten bescheinigt worden war, dass keine Persönlichkeitsstörung vorliege, erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts seine Unterbringung im Juli 2007 für erledigt. Zugleich ordnete sie seine einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an. Das Oberlandesgericht hob diese einstweilige Unterbringungsanordnung jedoch auf, woraufhin sich der Beschwerdeführer für zwei Wochen auf freiem Fuß befand. Im April 2008 ordnete das Landgericht die nachträgliche Sicherungsverwahrung an. Den Antrag des Beschwerdeführers, die Sicherungsverwahrung zur Bewährung auszusetzen, wies die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts mit Beschluss vom 30. August 2011 zurück; die sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht am 15. November 2011. Die Begründungen dieser beiden angegriffenen Beschlüsse entsprechen denen des Verfahrens 2 BvR 2122/11.

c) Eine vorherige Verfassungsbeschwerde beider Beschwerdeführer gegen die ursprüngliche Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung war nicht zur Entscheidung angenommen worden (BVerfGK 16, 98). Beide Beschwerdeführer erhoben hieraufhin Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der ihnen wegen Verstoßes gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK eine Entschädigung zugesprochen hat (Urteil vom 7. Juni 2012, Beschwerde-Nr. 65210/09 bzw. 61827/09).

3. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2) in Verbindung mit dem Vertrauensschutzgebot (Art. 20 Abs. 3 GG).

a) Die durch § 66b StGB ermöglichte nachträgliche Sicherungsverwahrung greift in grundrechtlich geschütztes Vertrauen ein. Dies gilt insbesondere, wenn die Betroffenen wegen ihrer Anlasstaten bereits vor Inkrafttreten der Vorschrift verurteilt wurden (sogenannte Altfälle). Da die Sicherungsverwahrung zu einer unbefristeten Freiheitsentziehung führt, kommt den betroffenen Vertrauensschutzbelangen ein besonders hohes Gewicht zu.

b) Demgegenüber kann nicht darauf verwiesen werden, dass bei der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung lediglich eine "Überweisung" von einer zeitlich nicht begrenzten freiheitsentziehenden Maßnahme in eine andere stattfinde und daher Vertrauensschutzbelange nur nachrangig berührt seien. Die Sicherungsverwahrung im Anschluss an die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beinhaltet nicht eine bloße Fortführung der vorherigen Maßregel auf veränderter Rechtsgrundlage, sondern einen neuen, eigenständigen Grundrechtseingriff. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Sicherungsverwahrung nur angeordnet werden kann, wenn zuvor die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt worden ist. Die Eigenständigkeit spiegelt sich zudem in der Ausgestaltung des Anordnungsverfahrens wider. Während die Erledigungserklärung von der Strafvollstreckungskammer am Ort der Unterbringung ausgesprochen wird, wird die Sicherungsverwahrung durch das Tatgericht angeordnet. Hinzu kommt, dass beide Maßregeln sich auch qualitativ voneinander unterscheiden.

c) Das Gewicht der betroffenen Vertrauensschutzbelange wird durch die Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verstärkt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit seinen Urteilen vom 7. Juni 2012 festgestellt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführer gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK verstößt. Aus der weiteren Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich darüber hinaus, dass eine konventionsrechtliche Rechtfertigung der nachträglichen Sicherungsverwahrung in Altfällen nur unter den Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK (d. h. bei Vorliegen einer psychischen Störung) in Betracht kommt.

Damit bestätigen die Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, dass sich das Gewicht des Vertrauens der Betroffenen auf ein Unterbleiben der Sicherungsverwahrung in Altfällen einem absoluten Vertrauensschutz annähert. Eine nachträgliche Sicherungsverwahrung darf daher in diesen Fällen nur noch ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes leidet.

d) Das Oberlandesgericht wird deshalb nach Maßgabe der Übergangsregelung aus dem Urteil vom 4. Mai 2011 erneut über die Fortdauer der nachträglichen Sicherungsverwahrung zu befinden haben.