Bundesverfassungsgericht

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Versammlungsrechtliche Auflagen müssen sich auf notwendige Eingriffe in die Versammlungsfreiheit beschränken

Pressemitteilung Nr. 70/2014 vom 6. August 2014

Beschluss vom 26. Juni 2014
1 BvR 2135/09

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld von 250 € wegen Verstoßes gegen eine versammlungsrechtliche Auflage richtet. Für einen Aufzug am 1. Mai hatte die Versammlungsbehörde die Benutzung von Lautsprechern nur für Ansprachen im Zusammenhang mit dem Versammlungsthema sowie für Ordnungsdurchsagen zugelassen. Die Beschwerdeführerin benutzte einen Lautsprecher für die Durchsagen "Bullen raus aus der Versammlung!" und "Zivile Bullen raus aus der Versammlung - und zwar sofort!". Das Urteil des Amtsgerichts, mit dem ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen die versammlungsrechtliche Auflage verhängt wurde, verkennt den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit. Dieser umfasst auch die Äußerung des versammlungsbezogenen Anliegens, dass nur die Versammlung unterstützende Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen sollen.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin nahm am 1. Mai 2008 an einer Versammlung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in München mit dem Thema "01. Mai. Tag der Arbeit" teil. Für die Versammlung hatte die zuständige Versammlungsbehörde unter anderem die Auflage erlassen, dass Lautsprecher und Megaphone nur für Ansprachen und Darbietungen, die im Zusammenhang mit dem Versammlungsthema stehen, sowie für Ordnungsdurchsagen verwendet werden dürfen. Während des Versammlungszuges benutzte die Beschwerdeführerin an zwei Orten einen Lautsprecher, welcher auf einem Handwagen mitgeführt wurde, für folgende Durchsagen: "Bullen raus aus der Versammlung!" und "Zivile Bullen raus aus der Versammlung - und zwar sofort!". Das Amtsgericht verurteilte die Beschwerdeführerin wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz durch Nichtbeachtung beschränkender Auflagen zu einer Geldbuße von 250 €. Einen Antrag der Beschwerdeführerin, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, verwarf das Oberlandesgericht als unbegründet.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.

1. Die als bußgeldbewehrt erachteten Lautsprecherdurchsagen sind nicht wie das Amtsgericht annimmt dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit entzogen. Sie standen inhaltlich in hinreichendem Zusammenhang mit der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Durchführung der Versammlung. Sie mögen zwar keinen spezifischen Bezug zum Versammlungsthema aufgewiesen haben und nicht auf die Einhaltung der Ordnung gerichtet gewesen sein. Sie gaben jedoch das versammlungsbezogene Anliegen kund, dass sich in dem Aufzug nur an ihm teilnehmende Personen befinden sollen, nicht aber auch am Meinungsbildungsprozess unbeteiligte Polizisten. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die körperliche Sichtbarmachung von gemeinsamen Überzeugungen. Wer an einer solchen Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch dazu berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen.

2. Durch die Sanktionierung der Lautsprecherdurchsagen mit einem Bußgeld greift die amtsgerichtliche Entscheidung in diesen Schutzbereich ein. Dieser Eingriff ist auf der Grundlage der gerichtlichen Feststellungen nicht gerechtfertigt.

a) Zwar ist die Versammlungsfreiheit nicht unbeschränkt gewährleistet (vgl. Art. 8 Abs. 2 GG). Bei der angewandten Bußgeldvorschrift des § 29 Versammlungsgesetz handelt es sich um ein solches beschränkendes Gesetz, dessen Auslegung und Anwendung grundsätzlich Sache der Strafgerichte ist. Allerdings haben die staatlichen Organe und damit auch die Strafgerichte die grundrechtsbeschränkenden Gesetze stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen und sich bei Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutze gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist.

b) Diesem Maßstab wird die amtsgerichtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld nicht gerecht. Aufgrund des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG durfte sich das Gericht nicht uneingeschränkt auf die Auflage der Versammlungsbehörde berufen. Vielmehr durfte es die Auflage nur dann als verfassungsgemäß ansehen, wenn es sie einer Auslegung für zugänglich hielt, nach der andere als strikt themenbezogene Äußerungen mit Versammlungsbezug von ihr nicht ausgeschlossen sind. An einer solchen Berücksichtigung des Schutzgehaltes der Versammlungsfreiheit fehlt es indes. Vielmehr belegt die angegriffene Entscheidung die in Frage stehenden versammlungsbezogenen Äußerungen unabhängig von jeder Störung mit einer Geldbuße. Für eine Störung durch den Gebrauch der Lautsprecheranlage im konkreten Fall ist weder etwas dargetan noch ist sie sonst ersichtlich. Die Lautsprecherdurchsagen der Beschwerdeführerin waren erkennbar nicht geeignet, mehr als allenfalls unerhebliche Unruhe innerhalb der Versammlung zu stiften. Auch eine mögliche Beeinträchtigung der Gesundheit von Dritten durch übermäßigen Lärm erscheint durch die bloß kurzzeitige zweimalige Benutzung des Lautsprechers ausgeschlossen. Insgesamt ist damit nicht erkennbar, dass Gefährdungen vorlagen, die die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld rechtfertigten.

3. Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei einer erneuten Befassung unter Beachtung der grundrechtlichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis kommen wird. Das angegriffene Urteil ist daher aufzuheben, die Sache ist an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.