Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Verfassungsbeschwerden in Sachen Optionskommunen nur zu geringem Teil erfolgreich

Pressemitteilung Nr. 87/2014 vom 7. Oktober 2014

Urteil vom 07. Oktober 2014
2 BvR 1641/11

Die im Jahr 2010 eingeführten Regelungen zur Rechtsstellung der sogenannten Optionskommunen sind im Wesentlichen verfassungsgemäß. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil entschieden. Mit Art. 91e GG hat der verfassungsändernde Gesetzgeber eine umfassende Sonderregelung für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende geschaffen. Er hat unmittelbare Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Optionskommunen begründet und in diesem Rahmen auch eine Finanzkontrolle ermöglicht. Darüber hinaus enthält Art. 91e GG einen umfassenden Gesetzgebungsauftrag zugunsten des Bundes. Er kann das Zulassungsverfahren weitgehend frei ausgestalten. Jedoch fehlt dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für eine Regelung, die die interne Willensbildung der Kommunen für einen Zulassungsantrag an eine Zwei-Drittel-Mehrheit bindet. Die entsprechende Vorschrift darf ab sofort nicht mehr angewendet werden; bestehende Zulassungen bleiben jedoch in Kraft.

Sachverhalt:

Die von 15 Landkreisen und einer Stadt erhobenen Kommunalverfassungsbeschwerden betreffen die rechtliche Stellung der sogenannten Optionskommunen nach der Neuregelung des Jahres 2010. Über Einzelheiten informiert die Pressemitteilung Nr. 64/2013 vom 24. Oktober 2013.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

1. Die Verfassungsbeschwerden sind im Wesentlichen zulässig. Jedoch ist die Jahresfrist nicht eingehalten, soweit sich eine der Verfassungsbeschwerden gegen die Prüfungsbefugnisse des Bundesrechnungshofs richtet. Die maßgebliche Vorschrift (§ 6b Abs. 3 Sozialgesetzbuch II - SGB II) ist bereits seit 2004 unverändert in Kraft.

2. Die Verfassungsbeschwerde gegen § 6a Abs. 2 Satz 3 SGB II, der den Antrag auf Zulassung als Optionskommune an eine Zwei-Drittel-Mehrheit im zuständigen kommunalen Gremium bindet, ist begründet. Im Übrigen sind die Verfassungsbeschwerden unbegründet.

a) aa) Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat mit Art. 91e GG für das Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende eine umfassende Sonderregelung geschaffen. Er hat auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007 reagiert, das die Zusammenarbeit von Ar-beitsagenturen und Kommunen in gemeinsamen Einrichtungen für verfassungswidrig erklärt hatte. Mit der Neuregelung sollte der im politischen Raum für praktikabel befundene Zustand aufrechterhalten und verfassungsrechtlich abgesichert werden.

Zwar durchbricht Art. 91e Abs. 1 GG das grundsätzliche Verbot der Mischverwaltung, das vom Bundesverfassungsgericht auch mit dem Argument des Demokratieprinzips untermauert worden ist. Denn eine Verflechtung von Verwaltungszuständigkeiten kann dazu führen, dass der Auftrag des Wählers auf Bundes- oder Landesebene durch die Mitwirkung anderer Ebenen relativiert und konterkariert wird. Auch das Rechtsstaatsprinzip verlangt im Interesse des effektiven Rechtsschutzes eine klare Zuordnung von Kompetenzen. Ein absolutes Verbot der Mischverwaltung lässt sich jedoch weder aus dem Demokratie- noch aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten; daher verstößt Art. 91e GG nicht gegen die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG.

In seinem Anwendungsbereich verdrängt Art. 91e GG die allgemeinen Regelungen über den Vollzug von Bundesgesetzen (Art. 83 ff. GG) und über die Finanzierung von Verwaltungsaufgaben (Art. 104a GG). Der verfassungsändernde Gesetzgeber wollte offenkundig keine Regelung schaffen, die sich möglichst schonend in die allgemeinen Strukturen einfügt, sondern eine umfassende Absicherung der Verwaltungspraxis ermöglichen. Das zeigt auch die Regelung zur Kostentragung (Art. 91e Abs. 2 Satz 2 GG), die zu einer direkten Finanzierung kommunalen Verwaltungshandelns durch den Bund führt.

bb) Art. 91e Abs. 2 GG begründet unmittelbare Verwaltungs- und Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Optionskommunen. Die Gemeinden sind jedoch grundsätzlich den Ländern zugeordnet. Daher durchbricht die Vorschrift, wenn auch nur punktuell, die Zweistufigkeit des Staatsaufbaus. Art. 91e Abs. 2 GG ermöglicht dem Bund eine effektive Finanzkontrolle, die sich von der staatlichen Aufsicht wie auch von den Befugnissen des Bundesrechnungshofs unterscheidet.

cc) Art. 91e Abs. 2 GG räumt den Gemeinden und Gemeindeverbänden eine Chance ein, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als kommunale Träger alleinverantwortlich wahrzunehmen. Wie bereits aus der Formulierung deutlich wird, dass der Bund eine begrenzte Anzahl von Gemeinden und Gemeindeverbänden zulassen „kann“, wird damit kein Anspruch begründet. Eröffnet der Gesetzgeber den Gemeinden und Gemeindeverbänden diese Chance jedoch, so ist er bei deren Ausgestaltung grundsätzlich frei. Das interkommunale Gleichbehand-lungsgebot verbietet es allerdings, einzelne Gemeinden oder Gemeindeverbände aufgrund sachlich nicht vertretbarer Differenzierungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen.

dd) Die Wahrnehmung der Chance auf Zulassung als Optionskommune fällt in den Schutzbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG). Gemeinden und Gemeindeverbände können sich gegenüber dem Staat auf das interkommunale Gleichbehandlungsgebot berufen und seine Verletzung vor dem Bundesverfassungsgericht rügen.

ee) Art. 91e Abs. 3 GG enthält einen umfassenden und weit zu verstehenden Gesetzgebungsauftrag zugunsten des Bundes für alle Rechtsverhältnisse, die mit der Zulassung von Optionskommunen verbunden sind.

b) Die Verfassungsbeschwerde gegen § 6a Abs. 2 Satz 3 SGB II ist begründet.

aa) Mit der Kommunalverfassungsbeschwerde kann gerügt werden, dass ein Bundesgesetz gegen die Gesetzgebungskompetenz der Länder (Art. 70 GG) verstößt, denn die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen ist für das verfassungsrechtliche Bild der Selbstverwaltung mitbestimmend.

bb) § 6a Abs. 2 Satz 3 SGB II bestimmt, dass der Antrag auf Zulassung als Optionskommune einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder in der zuständigen Vertretungskörperschaft bedarf. Die Vorschrift verkürzt damit die Organisationshoheit der Gemeinden und greift dadurch in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie ein. Verglichen mit den allgemeinen Regelungen des Kommunalrechts erschwert sie die Willensbildung in den Stadträten und Kreistagen. Im Fall des beschwerdeführenden Landkreises Roth kam eine Realisierung der gesetzlich eröffneten Chance daher schon deshalb nicht in Betracht, weil sich nur 36 von 60 Mitgliedern für den Antrag ausgesprochen hatten.

cc) § 6a Abs. 2 Satz 3 SGB II verletzt die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Die interne Willensbildung in den Kommunen und das Zusammenwirken zwischen ihren Organen ist Teil des Kommunalrechts. Wäre dies anders, könnte der Bund in allen Bereichen, in denen er eine Gesetzgebungskompetenz besitzt, auch Vorgaben zur Willensbildung erlassen; die den Ländern zustehende Gesetzgebungskompetenz für das Kommunalrecht liefe insoweit leer.

Auch die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) vermag die angegriffene Regelung nicht zu stützen. Zwar ist der Begriff „öffentliche Fürsorge“ nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weit auszulegen und erfasst auch organisatorische Vorschriften. Die hier angegriffene Vorschrift regelt jedoch keine organisatorische Frage bei der Erbringung sozialrechtlicher Leistungen, sondern die Art und Weise der Willensbildung in den Kommunen.

Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich auch nicht aus Art. 91e Abs. 3 GG. Auf dieser Grundlage kann der Gesetzgeber zwar die Voraussetzungen für die Zulassung von Optionskommunen regeln, insbesondere deren Anzahl sowie die Zulassungskriterien. Die angegriffene Vorschrift betrifft jedoch nicht die Rechtsverhältnisse zwischen der antragstellenden Kommune und dem Bund oder dem Land, sondern die interne Organisation der Kommunen.

dd) § 6a Abs. 2 Satz 3 1. Halbsatz SGB II ist für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären. Die Vorschrift gilt für bestehende Zulassungen fort. Allerdings darf sie in neuen Zulassungsverfahren nicht mehr angewandt werden.

Würde die Vorschrift für nichtig erklärt, könnten die zugelassenen Optionskommunen ihre Auf-gaben ab sofort nicht mehr einheitlich wahrnehmen. Hiervon wären eine hohe Zahl von Leistungsempfängern und die Mitarbeiter der Kommunen betroffen. Ohne die Aufrechterhaltung der Regelung für die Vergangenheit wäre es daher nicht möglich, eine geordnete Sozialverwaltung sicherzustellen.

c) Gegen § 6a Abs. 2 Satz 4 SGB II, der die Anzahl der Optionskommunen auf höchstens 25 % der zum 31. Dezember 2010 bestehenden Aufgabenträger festlegt, bestehen keine verfassungs-rechtlichen Bedenken.

aa) Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich aus Art. 91e Abs. 3 GG. Inhaltlich ge-ben Art. 91e Abs. 1 und Abs. 2 GG ein Regel-Ausnahme-Verhältnis vor: Die Aufgabenwahrnehmung in gemeinsamen Einrichtungen soll danach die Regel sein, die alleinige Aufgabenwahr-nehmung durch Optionskommunen die Ausnahme. Dies belegen der Wortlaut des Art. 91e Abs. 2 GG, seine systematische Stellung und seine Entstehungsgeschichte. Im Übrigen verfügt der Gesetzgeber jedoch über einen weiten Gestaltungsspielraum.

bb) Aus dem Wortlaut des Art. 91e Abs. 2 GG lässt sich namentlich keine konkrete Anzahl möglicher Optionskommunen ableiten. Mit der Festlegung auf 25 % hat der Gesetzgeber lediglich die im Rahmen der Verfassungsänderung avisierte Zielgröße übernommen und den politischen Erwartungen der Beteiligten Rechnung getragen. Verfassungsrechtlich verpflichtet war er dazu nicht.

cc) § 6a Abs. 2 Satz 4 SGB II bedarf auch keiner verfassungskonformen Auslegung im Lichte von Art. 28 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist keine Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft, die der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) unterfiele. Es handelt sich vielmehr um eine Aufgabe, die normalerweise bundeseinheitlich von der Bundesagentur für Arbeit wahrgenommen wird. Auch die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeindeverbände (Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG), die von vornherein nur nach Maßgabe der Gesetze besteht, wird nicht verletzt. Die Zuweisung einer neuen Aufgabe könnte nur verlangt werden, wenn sonst die Selbstverwaltungsgarantie in ihrem Kern entwertet wäre, was offensichtlich nicht der Fall ist.

dd) Eröffnet der Gesetzgeber den Kommunen die Chance auf eine bestimmte Aufgabenzuständigkeit, so muss er ein Verfahren vorsehen, das eine transparente und nachvollziehbare Verteilungs- und Zulassungsentscheidung sicherstellt. Der Gesetzgeber musste dieses Verfahren in seinen wesentlichen Grundzügen selbst ausgestalten (vgl. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG); die Einzelheiten durfte er dem Verordnungsgeber überlassen. § 6a Abs. 3 SGB II ist insoweit eine hinreichende Rechtsgrundlage.

Ob das in der Kommunalträger-Eignungsfeststellungsverordnung (KtEfV) geregelte Verteilungsverfahren selbst den Anforderungen an ein willkürfreies, transparentes und nachvollziehbares Zulassungsverfahren genügt, ob es insbesondere nicht bundesrechtlicher Regelungen über die Verteilung der möglichen Optionskommunen auf die Länderkontingente bedarf, ist hier nicht zu entscheiden. Denn die insoweit möglicherweise unzureichende Verordnung ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

d) Schließlich begegnet § 6b Abs. 4 SGB II, der die Finanzkontrolle durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales regelt, keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Gesetzgebungskompetenz für diese Vorschrift folgt ebenfalls aus Art. 91e Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 GG. Die damit verbundenen Befugnisse des Bundes unterscheiden sich von denen des Bundesrechnungshofes und beschränken sich auf die fiskalischen Interessen des Bundes. Ihm ist insbesondere gestattet, öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche geltend zu machen und im Wege der Verrechnung durchzusetzen. Eine Rechts- oder Fachaufsicht ist damit nicht verbunden; die dem Bund eröffnete Finanzkontrolle richtet sich nicht allgemein auf die Gewährleistung eines einheitlichen Gesetzesvollzugs und erlaubt es daher nicht, vertretbare Rechtsauffassungen des zugelassenen kommunalen Trägers zu beanstanden.