Bundesverfassungsgericht

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Die rechtsstaatswidrige Tatprovokation steht einer Verurteilung nicht zwingend entgegen

Pressemitteilung Nr. 8/2015 vom 11. Februar 2015

Beschluss vom 18. Dezember 2014
2 BvR 209/14, 2 BvR 240/14, 2 BvR 262/14

Im Falle einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation bleibt eine Verurteilung wegen der provozierten Tat auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) grundsätzlich möglich, wenn eine ausreichende Kompensation im gerichtlichen Verfahren erfolgt. Eine Verfahrenseinstellung kann nur in extremen Ausnahmefällen aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden, weil dieses auch das Interesse an einer der materiellen Gerechtigkeit dienenden Strafverfolgung schützt. Dies hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden. Drei Verfassungsbeschwerden nahm die Kammer nicht zur Entscheidung an, weil die Strafgerichte die rechtsstaatswidrige Tatprovokation nicht nur durch konkret bezifferte Strafnachlässe, sondern auch durch eine restriktive Beweisverwertung im gerichtlichen Verfahren ausreichend kompensiert und damit vertretbar von der Annahme eines extremen Ausnahmefalles abgesehen haben.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Die drei Beschwerdeführer wenden sich gegen ihre Verurteilung zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Betäubungsmitteldelikten. Das Landgericht Berlin stellte in seinem Urteil eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation und zugleich einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest. Im Ermittlungsverfahren habe eine Vertrauensperson im Zuge einer Vielzahl legendenbildender Maßnahmen über sehr langen Zeitraum - ergänzt durch einen verdeckten Ermittler - mit erheblichen Verlockungen und Druck auf den Beschwerdeführer zu 1. eingewirkt. Dadurch hätten die Ermittlungsbehörden die Begehung einer ganz erheblich über den Anfangsverdacht hinausgehenden Tat erleichtert. Die rechtsstaatswidrige Tatprovokation berücksichtigte das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung. Dabei nahm es für den Beschwerdeführer zu 1. einen Strafabschlag von wenigstens fünf Jahren und sieben Monaten vor und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und fünf Monaten. Für den Beschwerdeführer zu 3. nahm es einen Strafabschlag von wenigstens drei Jahren und fünf Monaten vor und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten. Bei der Strafzumessung betreffend den Beschwerdeführer zu 2. berücksichtigte das Landgericht die staatliche Tatprovokation nur allgemein strafmildernd ohne konkrete Bezifferung, weil insoweit kein Konventionsverstoß festzustellen sei, und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Die Revision der Beschwerdeführer verwarf der Bundesgerichtshof.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

a) Die Ausgestaltung des Rechts auf ein faires Verfahren ist in erster Linie dem Gesetzgeber und sodann den Gerichten bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung aufgegeben. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht - auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte - ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde. Im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in den Blick zu nehmen.

b) Die Strafgerichte haben die rechtsstaatswidrige Tatprovokation im Rahmen der Strafzumessung ausreichend berücksichtigt; eine Verfahrenseinstellung war nicht geboten.

aa) In der bisherigen Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde offen gelassen, ob die Mitwirkung eines polizeilichen Lockspitzels bei der Überführung eines Straftäters überhaupt geeignet sein kann, die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gegen den Betroffenen zu hindern. Auch der vorliegende Fall erfordert keine Entscheidung dieser Frage. Selbst wenn man dies im Grundsatz für möglich erachten wollte, könnte ein derartiges Verbot der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs nur in extremen Ausnahmefällen aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden, weil es nicht nur Belange des Beschuldigten, sondern auch das Interesse an einer der materiellen Gerechtigkeit dienenden Strafverfolgung schützt.

bb) Bei der hiesigen Fallgestaltung liegt die Annahme eines derartigen Extremfalls allerdings nahe. Die Einwirkungen der Vertrauensperson auf den Beschwerdeführer zu 1. und die staatlicherseits geleistete Unterstützung während der Tatvorbereitung machen deutlich, dass die Kontrolle der Polizei durch die Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ versagt hat. Dies kann nicht ohne Einfluss auf das weitere Verfahren bleiben. Angesichts des Ausmaßes des Fehlverhaltens und der damit verbundenen rechtsstaatswidrigen Einwirkung auf den Beschwerdeführer im Ermittlungsverfahren wäre die Annahme eines Verfahrenshindernisses nicht fernliegend gewesen.

cc) Gleichwohl kann die Frage auch vorliegend offen gelassen werden. Basierend auf den Feststellungen des Tatgerichts zu den konkreten Umständen der Provokation und des Tatgeschehens selbst konnten die Fachgerichte verfassungsrechtlich vertretbar von der Annahme eines Extremfalles im genannten Sinne absehen. Ob dies anders zu beurteilen wäre, wenn es sich bei dem unmittelbar zur Tat verleiteten Beschwerdeführer um einen gänzlich Unverdächtigen gehandelt hätte, bedarf keiner Entscheidung. Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob dann ein staatlicher Strafanspruch mit Blick auf die materielle Gerechtigkeit und entgegen den schützenswerten Belangen des Beschuldigten noch aufrechterhalten werden könnte.

Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch nicht um eine ausschließlich staatlicherseits verursachte Tat. Gegen den Beschwerdeführer bestanden von Anfang an ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte, die die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz rechtfertigten. Trotz der fortgesetzten Einwirkung durch die Vertrauensperson blieb er zudem in seinen Entscheidungen weitgehend frei. Insbesondere wurde er weder durch die Vertrauensperson bedroht noch nutzte sie eine besondere Notsituation des Beschwerdeführers aus. Unter diesen Voraussetzungen kann nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer zum bloßen Objekt staatlichen Handelns wurde. Dies muss erst recht für die beiden anderen Beschwerdeführer gelten, auf die allenfalls mittelbar eingewirkt wurde.

2. Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR ist im Ergebnis nicht von einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren auszugehen, weil der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK im Ermittlungsverfahren durch die Fachgerichte ausreichend kompensiert worden ist.

a) Die Rechtsprechung des EGMR verfolgt hinsichtlich der rechtlichen Würdigung tatprovozierenden Verhaltens von Ermittlungsbehörden einen anderen dogmatischen Ansatz; sie stellt die Zulässigkeit der Verfahrensdurchführung an sich und die Beweisverwertung in den Mittelpunkt. Infolgedessen hat der Gerichtshof ausgeführt, dass das öffentliche Interesse die Verwendung von Beweisen, die durch polizeiliche Anstiftung gewonnen wurden, nicht rechtfertigen könne. Dem Gerichtshof ist darin beizupflichten, dass der Staat unbescholtene Bürger nicht zu Straftaten verleiten darf; die Ermittlungsbehörden sollen Straftaten verfolgen, nicht sie verursachen. Hieraus lässt sich aber nicht schließen, das nationale Rechtssystem müsse zwingend dem dogmatischen Ansatz des Gerichtshofs folgen. Solange die inhaltlichen Anforderungen, die Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK an die Fairness des Strafverfahrens stellt, erfüllt sind, überlässt es der Gerichtshof den nationalen Gerichten zu entscheiden, wie diese Anforderungen in die jeweiligen nationalen Strafrechtssysteme zu integrieren sind.

b) Ob die Strafzumessungslösung den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in jedem Einzelfall gerecht wird, kann und muss hier nicht entschieden werden. Jedenfalls in ihrer Anwendung durch die Strafgerichte auf den vorliegenden Fall verstößt sie - auch unter Berücksichtigung der Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK - nicht gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des fairen Verfahrens.

Hierbei spielt neben der ausdrücklichen Feststellung und Anerkennung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und dem ganz erheblichen, konkret bezifferten Strafnachlass auch das Vorgehen des Landgerichts im Rahmen der Beweiswürdigung eine bedeutende Rolle. Seine Beweiswürdigung beruht vor allem auf den Geständnissen der drei Beschwerdeführer sowie der zwei weiteren Angeklagten. Die fünf Geständnisse haben sich dabei hinsichtlich des Tatgeschehens - soweit die jeweiligen Angeklagten hiervon Kenntnis hatten - weitgehend gedeckt. Soweit sie sich in Teilbereichen widersprochen haben, legte die Kammer jeweils nur das zum Nachteil der einzelnen Angeklagten zugrunde, was ihrer eigenen Einlassung entsprach. Insbesondere griff die Kammer nicht auf die weiteren Beweismittel zurück, um in diesen Punkten zu Lasten der einzelnen Angeklagten von ihrem jeweiligen Geständnis abweichende Feststellungen zu treffen. Für die Kammer waren die Geständnisse auch ohne die Angaben der Vertrauensperson und der Ermittlungsbeamten schon aus sich heraus und in ihrer jeweiligen Übereinstimmung glaubhaft und belastbar. Damit nähert sich die Beweiswürdigung des Landgerichts im Ergebnis der Annahme eines ausdrücklichen Beweisverwertungsverbotes zu Lasten der Beschwerdeführer und der übrigen Angeklagten in Bezug auf die Angaben der Vertrauensperson und des verdeckten Ermittlers an.