Bundesverfassungsgericht

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Zum Grundsatz der Rechtswegerschöpfung gegen sitzungspolizeiliche Anordnungen des Landgerichts in Strafsachen

Pressemitteilung Nr. 24/2015 vom 29. April 2015

Beschluss vom 17. April 2015
1 BvR 3276/08

Gegen die sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden einer Strafkammer des Landgerichts, nach der nur verpixelte Bildaufnahmen von Prozessbeteiligten veröffentlicht werden dürfen, muss zunächst Beschwerde zum Oberlandesgericht erhoben werden. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden. Der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung nach § 90 Abs. 2 Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) verlangt, vor der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde vorrangig alle anderen nicht offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfe zu ergreifen. Ein solcher Fall offensichtlicher Unzulässigkeit war vorliegend nicht gegeben, so dass die Kammer die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin ist eine bekannte Verlagsgesellschaft, die mehrere Tageszeitungen herausgibt. In dem zugrundeliegenden Strafverfahren wurde dem Angeklagten vorgeworfen, einen Holzklotz von einer Autobahnbrücke auf einen Personenkraftwagen geworfen und dadurch die Beifahrerin getötet zu haben. Die Tat und die Strafverfolgung fanden bundesweit ein hohes mediales Interesse. Nachdem im Rahmen der Berichterstattung über den ersten Verhandlungstag mindestens eine Zeitung unverpixelte Bilder des Angeklagten veröffentlichte, erließ der Vorsitzende Richter eine sitzungspolizeiliche Anordnung auf Grundlage des § 176 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), nach der vom Angeklagten und dem Nebenkläger nur verpixelte Bilder veröffentlicht werden dürfen. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen diese sitzungspolizeiliche Anordnung und mittelbar gegen die Versagung eines fachgerichtlichen Rechtsbehelfs durch den Gesetzgeber.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Die Beschwerdeführerin hat den Rechtsweg gegen die angegriffene Verfügung nicht erschöpft.

a) Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist eine Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtsweges zulässig. Danach muss ein Beschwerdeführer zunächst die ihm gesetzlich zur Verfügung stehenden, nicht offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfe ergreifen. Dem Bundesverfassungsgericht soll ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Fachgerichte vermittelt werden. Zugleich entspricht es der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, dass vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen selbst gewähren und etwaige im Instanzenzug auftretende Fehler durch Selbstkontrolle beheben. Offensichtlich unzulässig ist ein Rechtsmittel nur dann, wenn der Rechtsmittelführer nach dem Stand der Rechtsprechung und Lehre zum maßgebenden Zeitpunkt über dessen Unzulässigkeit nicht im Ungewissen sein konnte.

b) Es spricht zumindest vieles dafür, dass das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 304 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) in der vorliegenden Konstellation gegeben ist. Gemäß § 304 Abs. 2 StPO steht die Beschwerde grundsätzlich auch nicht verfahrensbeteiligten Personen zu, die durch die richterliche Entscheidung betroffen sind. Dass die hier angegriffene sitzungspolizeiliche Anordnung kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung einer Anfechtung entzogen ist, ergibt sich weder aus § 305 Satz 1 StPO noch aus § 181 Abs. 1 GVG.

Zwar lehnte insbesondere die ältere fachgerichtliche Rechtsprechung eine Beschwerde gegen Verfügungen des Vorsitzenden nach § 176 GVG ab und folgt ein Teil der Literatur bis heute dieser Auffassung. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage bislang ausdrücklich offengelassen. Doch sprach sich ein nicht unerheblicher Teil der neueren fachgerichtlichen Rechtsprechung und der Kommentarliteratur bereits im Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde für die Statthaftigkeit der Beschwerde aus, wenn der sitzungspolizeilichen Anordnung eine über die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung hinausgehende Wirkung zukommt und insbesondere Grundrechte beeinträchtigt. Dieser Ansicht folgen mittlerweile weitere Gerichte.

Dass auch das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit und zuletzt im Jahr 2007 angenommen hat, ein Rechtsweg gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen nach § 176 GVG sei nicht eröffnet, steht dem nicht entgegen. Denn im Zeitpunkt der Einlegung der vorliegenden Verfassungsbeschwerde war nach der weitgehenden Änderung der Auffassung in fachgerichtlicher Rechtsprechung und Literatur ein Rechtsmittel nach § 304 Abs. 1 StPO nicht mehr offensichtlich unzulässig. Die Verpixelungsanordnung reicht über die Dauer der Hauptverhandlung und sogar über die Rechtskraft des Urteils hinaus, denn sie untersagt das Veröffentlichen nicht anonymisierter Aufnahmen des Angeklagten sowie des Nebenklägers vor und nach den Sitzungen der Strafkammer zeitlich unbeschränkt. Auch dient die Anordnung nicht lediglich der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung, sondern vielmehr dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts von Angeklagtem und Nebenkläger. Sie war darauf gerichtet, die Wirkungen einer nicht anonymisierten Abbildung gerade des Angeklagten außerhalb des Verfahrens einzuschränken, um dem rechtsstaatlichen Gebot der Unschuldsvermutung gerecht zu werden. Schließlich reicht die sitzungspolizeiliche Verfügung auch insoweit über den Gang der Hauptverhandlung hinaus, als sie nicht nur prozessuale Rechte der nicht verfahrensbeteiligten Beschwerdeführerin tangiert, sondern darüber hinaus in ihre Pressefreiheit eingreift.

2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung eines fachgerichtlichen Rechtsbehelfs gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen nach § 176 GVG durch den Gesetzgeber richtet, ist sie wegen mangelnden Rechtschutzbedürfnisses unzulässig. Das Prozessrecht hält ein Rechtsmittel bereit, dessen Anwendungsbereich von den Fachgerichten - jedenfalls heute - in grundrechtsfreundlicher Auslegung so weit gezogen wird, dass es die streitgegenständliche sitzungspolizeiliche Anordnung bereits erfasst. Dass § 304 Abs. 4 StPO Beschlüsse und Verfügungen des Bundesgerichtshofs sowie eines Oberlandesgerichts von der Anfechtung ausnimmt, lässt mit Blick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes zwar weiterhin Fragen offen, braucht im vorliegenden Verfahren jedoch nicht entschieden zu werden.