Bundesverfassungsgericht

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Entschädigung wegen unangemessener Verzögerung eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens im Rahmen der Zuständigkeitsklärung

Pressemitteilung Nr. 66/2015 vom 4. September 2015

Beschluss vom 20. August 2015
Vz 11/14, 1 BvR 2781/13

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die Beschwerdekammer des Bundesverfassungsgerichts der Beschwerdeführerin einer Verfassungsbeschwerde eine Entschädigung von 3.000 Euro wegen der unangemessenen Dauer ihres Verfahrens zugesprochen. Dies hat die Kammer mit den außergewöhnlichen Besonderheiten des Verfahrensverlaufs begründet: Die Senatszuständigkeit war zunächst eineinhalb Jahre ungeklärt geblieben, und nach einer Änderung der Geschäftsverteilung hatte sich die Abgabe an den nunmehr zuständigen Richter erneut um ein Jahr und zehn Monate verzögert. Die Zuerkennung einer Entschädigung war deshalb unabhängig davon geboten, dass die Gesamtdauer des Verfahrens unter Berücksichtigung der Aufgaben und der Stellung des Bundesverfassungsgerichts nicht ohne Weiteres unangemessen war. Denn zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Verfassungsrechtsprechung besteht ein erheblicher Spielraum bei der Entscheidung darüber, welches Verfahren aufgrund welcher Maßstäbe als vordringlich einzuschätzen ist.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin machte vor den Arbeitsgerichten u. a. geltend, sie sei gegenüber einem gleichwertig beschäftigten männlichen Kollegen schlechter bezahlt worden und beantragte die Zahlung der Gehaltsdifferenz. Nachdem ihre Klage insoweit in allen Instanzen ohne Erfolg blieb, erhob sie am 24. März 2009 Verfassungsbeschwerde; aufgrund weiterer Streitgegenstände lief das Ausgangsverfahren parallel weiter. Zu einer Entscheidung über die Senatszuständigkeit kam es zunächst nicht, weil die in Frage kommenden Berichterstatter des Ersten Senats (für das Arbeitsrecht) und des Zweiten Senats (für Verfassungsbeschwerden, bei denen die Auslegung und Anwendung von „primärem Europarecht von erheblicher Bedeutung ist“) jeweils die eigene Zuständigkeit als gegeben erachteten. Mit Beschluss vom 13. Oktober 2010 entschied der für solche Fälle gebildete Ausschuss (vgl. § 14 Abs. 5 BVerfGG), dass der Zweite Senat zuständig sei. Durch einen Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts änderte sich in der Folge jedoch die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Senaten ab 1. Januar 2012; der Zweite Senat war fortan nur noch zuständig für Verfassungsbeschwerden, bei denen die Auslegung und Anwendung von „Art. 23, 24 oder 59 GG, mit Ausnahme der einzelnen menschenrechtlichen Gewährleistungen überwiegen“. Mit Wirkung vom 17. Oktober 2013 übernahm der Erste Senat das Verfassungsbeschwerdeverfahren gemäß § 44 Abs. 2 GOBVerfG einvernehmlich; schon zuvor, im Juni 2013, war das fachgerichtliche Ausgangsverfahren durch Vergleich beendet worden. Das Verfassungsbeschwerdeverfahren wurde durch Nichtannahmebeschluss vom 8. September 2014 unter Verweis auf den Vergleich abgeschlossen. Die Beschwerdeführerin erhob unmittelbar danach Verzögerungsbeschwerde.

Wesentliche Erwägungen der Beschwerdekammer:

1. Wer infolge unangemessener Dauer eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt (vgl. § 97a BVerfGG). Ob die Verfahrensdauer angemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung der Aufgaben und der Stellung des Bundesverfassungsgerichts. In Betracht kommt die Entschädigung sowohl materieller als auch immaterieller Nachteile. Eine Entschädigung kann jedoch nur zugesprochen werden, wenn und soweit die unangemessene Verfahrensdauer ursächlich für die geltend gemachten Nachteile ist. Ein immaterieller Nachteil wird vermutet und mit 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung entschädigt, sofern nicht das Bundesverfassungsgericht aus Gründen der Billigkeit einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzt.

2. Die Dauer des hier zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist im Umfang von insgesamt 30 Monaten als unangemessen anzusehen.

a) Ein Zeitraum unangemessener Verfahrensdauer von einem Jahr ist zunächst auf die Verfahrensbehandlung vor Klärung der Senatszuständigkeit im Ausschuss gemäß § 14 Abs. 5 BVerfGG zurückzuführen. Denn die Feststellung des gesetzlichen Richters muss unverzüglich erfolgen, weil ohne sie die Bearbeitung der Rechtssache nicht beginnen kann. Im vorliegenden Fall war darüber hinaus bereits innerhalb weniger Wochen nach Eingang klar, dass ein positiver Zuständigkeitskonflikt zu lösen war und deshalb eine formlose Einigung zwischen den beteiligten Richterdezernaten in beiden Senaten im Sinne von § 44 Abs. 2 GOBVerfG voraussichtlich nicht möglich sein werde.

Es wäre weder möglich noch im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit der in Betracht kommenden Fallkonstellationen sinnvoll, eine für den Regelfall als angemessen zu bewertende Dauer einer Klärung der Zuständigkeitsfrage zu fixieren. Vorliegend wäre allerdings angesichts der besonderen Umstände eine Klärung der Senatszuständigkeit innerhalb von etwa sechs Monaten nach Eingang der Sache geboten und möglich gewesen.

b) Eine weitere Phase unangemessener Verfahrensdauer ist für den Zeitraum von November 2011 bis Oktober 2013 festzustellen; in diesem wurde das Verfahren um etwa eineinhalb Jahre unangemessen verzögert. Als Folge der Änderung der Geschäftsverteilung zwischen den Senaten durch Beschluss des Plenums vom 22. November 2011 war ab 1. Januar 2012 der Erste Senat zuständig. Dennoch verblieb das Verfahren für einen Zeitraum von insgesamt 21 Monaten weiter beim unzuständigen Richter.

Dieser in der Verantwortungssphäre des Gerichts liegende Umstand kann nicht mit der außergewöhnlichen Belastung des bisher zuständigen Richters gerechtfertigt werden. Eine solche Situation kann es zwar regelmäßig rechtfertigen, Verfahren kleineren Umfangs und vergleichsweise geringerer Bedeutung in gewissem Umfang durchaus auch für nicht unbedeutende Zeiträume zurückzustellen, um die Erledigung vordringlicher Verfahren zu ermöglichen. Für die Bestimmung der Senats- und Berichterstatterzuständigkeit kann dies jedoch allenfalls in Ausnahmefällen gelten. Denn sie ist auf die Frage einer Auslegung der Geschäftsverteilung begrenzt, zugleich aber von hervorgehobener Bedeutung dafür, den zuständigen Berichterstatter zu ermitteln, um ihm die Bearbeitung der Sache zu ermöglichen.

c) Demgegenüber lässt sich weder für den Zeitraum der Zuständigkeit des Zweiten Senats zwischen Oktober 2010 und November 2011 noch für die Zuständigkeit des Ersten Senats von Oktober 2013 bis zum Abschluss des Verfahrens im September 2014 die Unangemessenheit der Verfahrensdauer feststellen. Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob der im erstgenannten Zeitraum zuständige Verfassungsrichter trotz seiner Belastung in der Lage gewesen wäre, gerade das hier betroffene Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erledigen. Denn bei der Entscheidung darüber, welches Verfahren aufgrund welcher Maßstäbe als vordringlich einzuschätzen ist, besteht zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Verfassungsrechtsprechung ein erheblicher Spielraum, dessen Überschreitung hier nicht anzunehmen ist.

3. Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Nachteile begründen nur zu einem geringen Anteil einen Anspruch auf angemessene Entschädigung, weil sie überwiegend nicht kausal auf die eingetretene Verfahrensverzögerung zurückzuführen sind. Die Frage, ob die Verfassungsbeschwerde erfolgreich oder erfolglos war, spielt hierbei keine Rolle. Für jeden materiellen Nachteil muss feststehen, dass er bei angemessener Verfahrensdauer nicht eingetreten wäre. Diese Feststellung lässt sich für keinen der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Nachteile treffen. Soweit die Beschwerdeführerin immaterielle Nachteile geltend macht, sind diese aufgrund der Vermutung des § 97a Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu entschädigen.