Bundesverfassungsgericht

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Bei der Anordnung der stichprobenartigen Durchsuchung von Strafgefangenen muss eine Abweichung im Einzelfall möglich sein

Pressemitteilung Nr. 91/2016 vom 8. Dezember 2016

Beschluss vom 05. November 2016
2 BvR 6/16

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen die Durchsuchung eines Strafgefangenen vor dem Gang zu einem Besuch richtete. Grundlage der Durchsuchung war eine gemäß Art. 91 Abs. 2 Satz 1 des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes (BayStVollzG) erlassene Durchsuchungsanordnung, wonach jeder fünfte Gefangene und Sicherungsverwahrte vor der Vorführung zum Besuch zu durchsuchen sei. Dies kann zwar vertretbar noch als Einzelfallanordnung angesehen werden. Allerdings verletzt die Durchsuchungsanordnung das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers, weil sie keine Abweichungen im Einzelfall zulässt und daher dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht ausreichend Rechnung trägt. Insoweit hätte die Durchsuchungsanordnung die Möglichkeit vorsehen müssen, von der Durchsuchung abzusehen, wenn die Gefahr des Missbrauchs fernliegt.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer verbüßt seit 2010 eine lebenslange Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Straubing. Er wurde am 17. Mai 2015 vor dem Gang zu einem Besuch seiner Familie körperlich durchsucht und musste sich dafür vollständig entkleiden. Die körperliche Durchsuchung, die auch eine Inspektion der Körperöffnungen umfasste, war auf Grundlage des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes genehmigt worden (Art. 91 Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG), wobei pauschal angeordnet wurde, dass jeder fünfte Strafgefangene und Sicherungsverwahrte vor der Vorführung zum Besuch körperlich durchsucht werden soll. Der Beschwerdeführer weigerte sich zunächst, die Durchsuchung durchführen zu lassen, und berief sich darauf, dass diese rechtswidrig sei. Nachdem die eingeteilten Vollzugsbeamten ihm mehrfach die Anwendung unmittelbaren Zwangs angedroht hatten, ließ er die Durchsuchung schließlich zu, wobei die Vollzugsbeamten nichts auffinden konnten. Den Antrag auf gerichtliche Entscheidung wies das Landgericht zurück; die Rechtsbeschwerde zum Oberlandesgericht blieb ebenfalls ohne Erfolg. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich die Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG).

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.

1. Der Beschluss des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG).

a) Durchsuchungen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Dies gilt in besonderem Maße für Durchsuchungen, die mit einer Inspizierung von normalerweise verdeckten Körperöffnungen verbunden sind. Diese Wertung liegt auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugrunde, die bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen ist. Mit Entkleidungen und der Inspektion von Körperöffnungen verbundene Durchsuchungen können durch die Erfordernisse der Sicherheit und Ordnung der Haftanstalt gerechtfertigt sein. Insofern erlaubt Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG im Einzelfall die mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung von Gefangenen auf Anordnung des Anstaltsleiters. Die Definition des „Einzelfalls“ wird sehr weit gefasst, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, solange nicht fast alle Gefangenen von der Anordnung betroffen sind. Demnach ist für eine Einzelfallanordnung ausreichend, dass sie durch Ort, Zeit, Art und Umfang der Maßnahme im Einzelnen so bestimmt abgegrenzt werden kann, dass dadurch für jeden denkbaren Einzelfall erkennbar ist, worin die Maßnahme im Einzelnen besteht und welcher Gefangene ihr unterworfen sein soll.

b) Vor diesem Hintergrund ist das Landgericht vertretbar davon ausgegangen, bei der Durchsuchungsanordnung vom 17. Mai 2015 handele es sich um eine Einzelfallanordnung im Sinne des Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG. Allerdings verletzt die Anordnung der Durchsuchung das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers, weil sie keine Abweichungen zulässt und daher dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht ausreichend Rechnung trägt. Mit Blick auf den weiten Begriff des „Einzelfalls“ hätte die Verfügung der Anstaltsleitung erkennen lassen müssen, dass von der Anordnung der Durchsuchung jedes fünften Gefangenen ausnahmsweise abgewichen werden kann. Um einen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, der Wahrung der Intimsphäre des Gefangenen und dem Sicherheitsinteresse der Vollzugsanstalt zu erreichen, hätte den die Durchsuchungsanordnung vollstreckenden Vollzugsbeamten durch den Wortlaut der Anordnung zumindest die Möglichkeit belassen werden müssen, von ihr abzuweichen, wenn die Gefahr des Missbrauchs des Besuchs fernliegt.

c) Die Entscheidung der Frage, ob die Justizvollzugsanstalt vorliegend zu Gunsten des Beschwerdeführers von der getroffenen Anordnung hätte abweichen müssen, da die Gefahr eines Missbrauchs des Besuchs durch den Beschwerdeführer fernliegend war, obliegt den Fachgerichten. Dies ist insbesondere mit Blick darauf, dass der Beschwerdeführer sich bei dem Empfang von Besuchen in der Vergangenheit bewährt hatte, jedenfalls nicht ausgeschlossen.

2. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.

Der Strafsenat des Oberlandesgerichts hat von der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, von einer Begründung der Rechtsbeschwerdeentscheidung abzusehen. Daher liegen über die Feststellung im Beschlusstenor hinaus Entscheidungsgründe, die das Bundesverfassungsgericht einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterziehen könnte, nicht vor. In einem solchen Fall ist die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten des Beschwerdeführers erhebliche Zweifel bestehen.