Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung erfordert eine durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage

Pressemitteilung Nr. 33/2017 vom 11. Mai 2017

Beschluss vom 11. April 2017
1 BvR 452/17

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt, dass ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung bestehen kann, wenn in Fällen einer lebensbedrohlichen Erkrankung vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasste Behandlungsmethoden nicht vorliegen, eine andere Behandlungsmethode aber eine Aussicht auf Besserung verspricht. Allerdings würde es dem Ausnahmecharakter eines solchen Leistungsanspruchs nicht gerecht, wenn man diesen in großzügiger Auslegung der Verfassung erweitern würde. Die notwendige Gefährdungslage liegt erst in einer notstandsähnlichen Situation vor. Anknüpfungspunkt eines derartigen verfassungsrechtlich gebotenen Anspruchs ist deswegen allein das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage.

Sachverhalt:

Bei der Beschwerdeführerin wurde eine Autoimmunkrankheit diagnostiziert, die mit verschiedenen Folgeerkrankungen beziehungsweise Komplikationen, insbesondere einer bereits mehrfach aufgetretenen Zungenschwellung, verbunden ist. Um der drohenden Erstickungsgefahr im Falle einer Zungenschwellung zu begegnen, führte die Beschwerdeführerin stets ein Notfallset mit sich. Darüber hinaus beantragte sie bei der im Ausgangsverfahren beklagten Krankenkasse die Übernahme der Kosten für eine intravenöse Immunglobulintherapie. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Voraussetzungen für einen sogenannten Off‑Label‑Use der Immunglobuline, die für die Behandlung der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Erkrankungen nicht zugelassen sind, nicht vorlägen. Auf die Klage der Beschwerdeführerin verurteilte das Sozialgericht die Beklagte, die Kosten für eine intravenöse Immunglobulintherapie zu übernehmen. Das Landessozialgericht wies die Berufung der Beklagten zurück. Auf die Revision der Beklagten hob das Bundessozialgericht die Urteile des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts auf und wies die Klage ab.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin vornehmlich geltend, dass ihr ein Anspruch auf die streitige Versorgung zustehe, da bei ihr eine lebensbedrohliche und seltene Erkrankung vorliege, für die keine etablierten Behandlungsmethoden, insbesondere keine zugelassenen Arzneimittel, zur Verfügung stünden, auf die sie zumutbar verwiesen werden könnte.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da sie unzulässig ist.

1. Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (BVerfGE 115, 25), auf den sich die Beschwerdeführerin wiederholt beruft, aus der allgemeinen Handlungsfreiheit, dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht auf Leben einen verfassungsunmittelbaren Anspruch auf Krankenversorgung abgeleitet, wenn in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasste Behandlungsmethoden nicht vorliegen und die vom Versicherten gewählte Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht. Allerdings würde es dem Ausnahmecharakter eines solchen Leistungsanspruchs nicht gerecht, wenn man diesen in großzügiger Auslegung der Verfassung erweitern würde. Die notwendige Gefährdungslage liegt erst in einer notstandsähnlichen Situation vor, in der ein erheblicher Zeitdruck für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Anknüpfungspunkt eines derartigen verfassungsrechtlich gebotenen Anspruchs ist deswegen allein das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage.

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Beschwerdeführerin eine mögliche Grundrechtsverletzung nicht hinreichend substantiiert geltend gemacht. Ein Mittel, das potentiell letale Komplikationen hinreichend zuverlässig verhindern kann, schließt einen entsprechenden Anspruch aus. Davon ist nach den von den Fachgerichten im Ausgangsverfahren getroffenen Feststellungen auszugehen, ohne dass bei der Sachverhaltsermittlung ein verfassungsrechtlich relevanter Fehler ersichtlich wäre. In der Sache ist entscheidend, dass der verfassungsunmittelbare Anspruch von der durch nahe Lebensgefahr geprägten notstandsähnlichen Lage begründet wird. Fehlt es an einer notstandsähnlichen Lage liegen keine hinreichenden Gründe vor, um den gesetzgeberischen Spielraum bei der Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung durch einen unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Anspruch zu überspielen.