Bundesverfassungsgericht

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Die Anrechnung von Kapitalabfindungen der NATO auf das Ruhegehalt von Bundeswehrangehörigen ist verfassungsrechtlich zulässig

Pressemitteilung Nr. 48/2017 vom 22. Juni 2017

Beschluss vom 23. Mai 2017
2 BvL 10/11, 2 BvL 28/14

Der Gesetzgeber darf Kapitalabfindungen, die im Zusammenhang mit einer Verwendung im öffentlichen Dienst einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung ausgezahlt wurden, auf das den Bundeswehrangehörigen nach deutschen Versorgungsbezügen zustehende Ruhegehalt anrechnen. Dies hat der Zweite Senat durch heute veröffentlichten Beschluss in zwei Verfahren der konkreten Normenkontrolle entschieden. Denn es gibt weder einen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums, der die Ruhegehaltfähigkeit von Zeiten im Dienste einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung zwingend anordnet oder untersagt, noch einen solchen Grundsatz, nach dem sich der Umgang mit Kapitalabfindungen aus dem Dienst in zwischen- oder überstaatlichen Einrichtungen bestimmt.

Sachverhalt:

Das Gesetz über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr (SVG) enthält - ebenso wie das Beamtenversorgungsgesetz - Ruhensvorschriften, die für das Zusammentreffen des Ruhegehalts mit anderen Versorgungsbezügen aus zwischenstaatlicher und überstaatlicher Verwendung gelten (§ 55b SVG). Die Ruhensvorschriften führen dazu, dass das den Bundeswehrangehörigen grundsätzlich zustehende Ruhegehalt teilweise nicht ausgezahlt wird. Dabei können auch einmalige Zahlungen in Form von Kapitalabfindungen im Zusammenhang mit einer Verwendung im öffentlichen Dienst einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung zur Anwendung der Ruhensvorschriften führen.

Beide Vorlagen betreffen Bundeswehrangehörige, die für den Dienst in Einrichtungen der NATO beurlaubt waren und dort am Ende ihrer Dienstzeit zusätzlich zu ihren laufenden Bezügen eine Kapitalabfindung zur Altersversorgung erhalten hatten. Diese Abfindung hatte zur Folge, dass ein Teilbetrag der deutschen Versorgungsbezüge der Betroffenen nach ihrem Eintritt in den Ruhestand dauerhaft zum Ruhen gebracht wurde. Durch Beschluss haben das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz und das Verwaltungsgericht München - letzteres durch drei Berufsrichter - das jeweils dort anhängige Ausgangsverfahren ausgesetzt, um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften über die Auswirkungen von Kapitalabfindungen auf Ruhestandsbezüge zur Entscheidung einzuholen.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

1. a) Die Vorlage des Verwaltungsgerichts München (2 BvL 28/14) ist unzulässig, weil das Gericht den Beschluss, durch den es das Verfahren ausgesetzt und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt hat, ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter erlassen hat. Es wäre jedoch erforderlich gewesen, diesen Beschluss in derjenigen Besetzung zu fassen, in der es die Entscheidung treffen müsste, für die die Vorlagefrage erheblich ist. Im verwaltungsgerichtlichen Urteilsverfahren ist damit grundsätzlich die volle Spruchkörperbesetzung erforderlich, also die Kammerbesetzung mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern.

b) Die Vorlage des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (2 BvL 10/11) hingegen ist zulässig. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht darlegen, aus welchen Gründen es von der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift überzeugt ist und inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängt. Es muss dazu den Sachverhalt darstellen, sich mit der einfachrechtlichen Rechtslage auseinandersetzen, seine eigene einschlägige Rechtsprechung darlegen und die in der Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind. § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verpflichtet das vorlegende Gericht jedoch nicht, auf jede denkbare Rechtsauffassung einzugehen.

2. Die Vorlage ist unbegründet. § 55b Abs. 3 Satz 1 SVG ist in den für die Vorlage maßgeblichen Fassungen von 1987 und 1989 mit dem Grundgesetz vereinbar.

a) § 55b Abs. 3 Satz 1 SVG verletzt nicht den Grundsatz der amtsangemessenen lebenslangen Vollversorgung.

aa) Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung des § 55b SVG ist in erster Linie Art. 14 Abs. 1 GG, wobei sich die Ausgestaltung soldatenbesoldungs- und -versorgungsrechtlicher Normen an den verfassungsrechtlich durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten Grundsätzen zu orientieren hat, die für das öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis des Berufsbeamtentums strukturprägend sind. Nach Art. 33 Abs. 5 GG ist das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. Mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums ist der Kernbestand von Strukturprinzipien gemeint, die allgemein oder doch ganz überwiegend und während eines längeren traditionsbildenden Zeitraums als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind. Für die Bemessung der Ruhestandsbezüge sind als hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums insbesondere das Alimentationsprinzip und das Leistungsprinzip von Bedeutung. Das Alimentationsprinzip verpflichtet den Dienstherrn, Beamten und ihren Familien lebenslang angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren. Das Leistungsprinzip verlangt, dass sich neben den Bezügen des letzten Amtes die Gesamtdauer der aktiven Dienstzeit in der Höhe der Versorgungsbezüge niederschlägt. Bei der praktischen Umsetzung der aus Art. 33 Abs. 5 GG resultierenden Pflicht zur amtsangemessenen und leistungsgerechten Alimentierung verbleibt allerdings grundsätzlich ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, um die Beamtengesetzgebung den Erfordernissen des freiheitlichen demokratischen Staates sowie seiner fortschreitenden Entwicklung anpassen zu können.

Einen spezifischen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums, der die Ruhegehaltfähigkeit von Zeiten im Dienste einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung zwingend anordnet beziehungsweise untersagt, oder einen solchen Grundsatz, nach dem sich der Umgang mit Kapitalabfindungen aus dem Dienst in zwischen- oder überstaatlichen Einrichtungen bestimmt, gibt es nicht. Dagegen lassen sich zu der Frage, ob Dienstzeiten eines Beamten oder Soldaten für einen ausländischen Dienstherrn bei der Bemessung der Versorgungsbezüge überhaupt als ruhegehaltfähig berücksichtigt werden durften oder mussten, zahlreiche beamten- und soldatenrechtliche Vorschriften aus der Zeit vor 1933 auffinden. Sie ergeben allerdings kein einheitliches Bild und können deshalb nicht Ausdruck eines hergebrachten Grundsatzes des Berufsbeamtentums sein. Hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums lassen sich auch im Hinblick auf Kapitalabfindungen, die von über- und zwischenstaatlichen Einrichtungen gewährt werden, nicht feststellen.

bb) Nach diesen Maßstäben ist § 55b Abs. 3 Satz 1 SVG in beiden zur Prüfung gestellten Fassungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

(1) Das Soldatenversorgungsrecht in den für die Vorlage maßgeblichen Fassungen stuft Zeiten im öffentlichen Dienst einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung als ruhegehaltfähig ein. Diese die Kooperation der Bundeswehr mit zwischen- oder überstaatlichen Einrichtungen stärkende Einbeziehung von Auslandsdienstzeiten in die ruhegehaltfähige Dienstzeit führt für sich genommen zu einer Erhöhung der Bemessungsgrundlage für die späteren Ruhestandsbezüge und damit zu höheren Versorgungsleistungen von Seiten des deutschen Dienstherrn. Zur Vermeidung einer auf diese Weise typischerweise entstehenden Überversorgung durch die doppelte Berücksichtigung von Auslandsdienstzeiten als ruhegehaltfähig findet ein Ausgleich statt, wenn eine Verwendung im Dienst einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung für den betroffenen Soldaten zu einem Anspruch auf Versorgungsleistungen durch diese Einrichtung geführt hat. Dieser Ausgleich wird dadurch herbeigeführt, dass das dem Soldaten zustehende deutsche Ruhegehalt teilweise zum Ruhen gebracht wird.

Zur Ermittlung des Ruhensbetrages wird zwischen einem Anspruch auf laufende Versorgung und dem Fall der Auszahlung einer Kapitalabfindung unterschieden: Ist eine im Auslandsdienst erworbene laufende Versorgung - die vom Eintritt in den Ruhestand an ausgezahlt wird - auszugleichen, so wird der monatliche Ruhensbetrag der deutschen Versorgungsbezüge auf den monatlichen Betrag der von der zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung gewährten Versorgung beschränkt, so dass der Soldat insgesamt jedenfalls einen Betrag erhält, der den ihm nach deutschem Soldatenversorgungsrecht unter Einbeziehung der Auslandsdienstzeiten zustehenden Bezügen zu 100 % entspricht. Ist hingegen eine Versorgung in Form einer Kapitalabfindung auszugleichen, so werden die laufenden deutschen Versorgungsbezüge des Soldaten in einem Umfang zum Ruhen gebracht, der von der Länge der Auslandsverwendung abhängt. Das Ruhen wird in diesem Fall außerdem nach seiner Dauer und damit auch seinem betragsmäßigen Umfang jedoch nicht begrenzt. Dies kann dazu führen, dass der Ruhensbetrag im Laufe der Zeit den Nennbetrag oder auch einen dynamisierten Wert der erhaltenen Abfindung übersteigt. Dem Empfänger einer Kapitalabfindung steht allerdings die Möglichkeit offen, die Abfindung an den Bund abzuführen und auf diese Weise das spätere Ruhen eines Teils seiner Versorgungsbezüge zu vermeiden.

(2) Art. 33 Abs. 5 GG schreibt vor, dass Beamte über ein Nettoeinkommen verfügen müssen, das ihre rechtliche und wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit gewährleistet und ihnen und ihren Familien über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinaus einen dem Amt angemessenen Lebenskomfort ermöglicht. Dies gilt sowohl für das Gehalt während der aktiven Dienstzeit als auch für die Phase des Ruhestandes. Besoldung und Versorgung des Beamten und seiner Familie haben ihre gemeinsame Wurzel im öffentlichen Dienst- und Treueverhältnis und müssen immer im Zusammenhang mit der Dienstverpflichtung und auch der Dienstleistung des Beamten oder Soldaten gesehen werden. Diese Wechselwirkung entfällt aber, wenn, wie vorliegend, als Folge einer Gewährung von Sonderurlaub ohne Dienstbezüge und Entsendung in ein fremdes Besoldungs-, Versorgungs- und Dienstleistungssystem eine unmittelbare Dienstleistung für den nationalen Dienstherrn nicht mehr erbracht wird, so dass den Gesetzgeber grundsätzlich keine verfassungsrechtlich zwingende Verpflichtung trifft, diese Zeiten überhaupt als ruhegehaltfähig einzustufen. Zudem darf der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Besoldungs- und Versorgungssystems auch pauschalieren und typisieren, solange sich für die Gesamtregelung ein plausibler und sachlich vertretbarer Grund anführen lässt. Im Rahmen seines Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber dabei durch Anrechnungs- und Ruhensvorschriften das Ziel verfolgen, eine Doppel- oder Überversorgung eines Beamten oder Soldaten zu vermeiden.

Zwar können sich der Empfang einer Kapitalabfindung von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung und das dadurch ausgelöste teilweise Ruhen der späteren deutschen Versorgung wirtschaftlich nachteilig für die betroffenen Soldatinnen und Soldaten auswirken. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass die addierten Ruhensbeträge jedenfalls den Nennwert der Kapitalabfindung überschreiten können. Zum anderen geht die Vereinnahmung der Kapitalabfindung durch deren Empfänger mit der Übernahme des wirtschaftlichen Verlust- oder Wertverfallrisikos einher, weil der deutsche Dienstherr der Betroffenen nicht befugt ist, die bestimmungsgemäße Verwendung der Abfindung zur Altersvorsorge zu kontrollieren oder gar zu erzwingen. Vielmehr liegt es in der alleinigen Verantwortung der Soldaten, den Kapitalbetrag so einzusetzen, dass er tatsächlich auf sinnvolle Weise der Sicherstellung der Versorgung dienen kann.

Dennoch verletzen diese möglichen Konsequenzen einer ohne zeitliche Begrenzung ausgesprochenen Ruhensanordnung nicht den Grundsatz der amtsangemessenen lebenslangen Vollversorgung. Der Gesetzgeber durfte nämlich davon ausgehen, dass eine am Ende der Auslandsdienstzeit ausgezahlte Kapitalabfindung im Hinblick auf die damit verbundenen vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten für ihren Empfänger einen wirtschaftlichen Wert aufweisen oder erreichen kann, der bei typischem Verlauf die amtsangemessene Alimentation des Empfängers sicherstellt.

Zusätzlich hat der Betroffene die Wahl, die Abfindung an seinen Dienstherrn auszukehren und sich auf diese Weise einen ungekürzten Versorgunganspruch zu sichern. Er kann andererseits den Betrag vereinnahmen und verwenden, wenn seine persönlichen Lebensumstände und die wirtschaftliche Lage zum Zeitpunkt der Auszahlung die Prognose rechtfertigen, dass die spätere Verkürzung seiner Versorgungsbezüge durch eine Ruhensanordnung hinter den mit der Kapitalabfindung verbundenen positiven Effekten zurückbleiben wird. Dass er damit auch wirtschaftliche Risiken übernimmt, liegt auf der Hand und löst deshalb keine besonderen Aufklärungs- oder sonstigen Fürsorgepflichten des Dienstherrn aus. Die Eröffnung der Möglichkeit für den Soldaten oder Beamten, selbst über die Einbehaltung oder Abführung der Kapitalabfindung zu entscheiden, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Der Einwand, die zur Überprüfung gestellte Regelung sei schon deshalb verfassungswidrig, weil sie die Wahl zwischen einer verfassungskonformen und einer verfassungswidrigen Handlungsalternative eröffne, greift nicht durch, da beide zur Wahl stehenden Alternativen je für sich genommen verfassungsgemäß sind.

Schließlich ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, die für eine zwischen- oder überstaatliche Einrichtung geleistete Dienstzeit überhaupt als ruhgehaltsfähig einzustufen. Das Leistungsprinzip erfordert zwar, dass die beamtenrechtliche Versorgung die im Dienst erbrachte Lebensleistung des Beamten oder Soldaten und sein zuletzt erreichtes Statusamt widerspiegelt. Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur versorgungsrechtlichen Berücksichtigung geleisteter Dienstzeiten trifft den Gesetzgeber dabei aber nur im Hinblick auf diejenigen Dienstzeiten, in denen der Soldat oder Beamte dem deutschen Dienstherrn gegenüber einen systemgerechten Versorgungsanspruch „erdient“ hat. Das ist bei Zeiten im Dienste der NATO indes nicht der Fall.

b) § 55b Abs. 3 Satz 1 SVG verstößt auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

Die Empfänger einer laufenden Versorgung aus dem über- oder zwischenstaatlichen Dienst und diejenigen, die nach ihrem über- oder zwischenstaatlichen Dienst eine Abfindung erhalten und nicht abgeliefert haben, werden zwar unterschiedlich behandelt. Diese Ungleichbehandlung ist jedoch durch Sachgründe gerechtfertigt. Während der Empfänger einer laufenden Versorgung aus dem Dienst in einer über- oder zwischenstaatlichen Einrichtung vor dem Eintritt in den Ruhestand keine Möglichkeit hat, mit Hilfe dieser Versorgung wirtschaftliche Erträge zu erzielen, gilt dies für den Empfänger einer Kapitalabfindung nicht. Ihm steht das Nutzungspotenzial der Abfindung während des gesamten Zeitraums vom Ende der Auslandsdienstzeit bis zum Eintritt in den Ruhestand zur Verfügung. Der Gesetzgeber durfte für die Rechtfertigung der von ihm bei der pauschalierenden Unterscheidung zwischen laufender Versorgung und Kapitalabfindung in Kauf genommenen Ungleichbehandlung davon ausgehen, dass der wirtschaftliche und damit wertprägende Vorteil der Abfindung gerade in ihrer Vielseitigkeit und in der Möglichkeit einer typischerweise langfristigen Nutzung besteht, die eine dauerhafte Sicherung eigener Art ermöglicht.