Bundesverfassungsgericht

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Zur Begrenzung der berücksichtigungsfähigen Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen von zusatz- und sonderversorgten Personen der Deutschen Demokratischen Republik in der gesetzlichen Rentenversicherung

Pressemitteilung Nr. 65/2004 vom 7. Juli 2004

Beschluss vom 23. Juni 2004, Beschluss vom 22. Juni 2004
1 BvL 3/98
1 BvR 1070/02

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit/ Amtes für nationale Sicherheit (MfS/AfNS) der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), der sich gegen die Begrenzung der berücksichtigungsfähigen Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen von Angehörigen des MfS/AfNS in der gesetzlichen Rentenversicherung auf das jeweilige Durchschnittseinkommen im Beitrittsgebiet wehrte, wurde von der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen.

In drei Normenkontrollverfahren hat der Erste Senat entschieden, dass bestimmte Begrenzungen der berücksichtigungsfähigen Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen von zusatz- und sonderversorgten Personen der DDR in der gesetzlichen Rentenversicherung, nämlich § 6 Abs. 2 (in Verbindung mit den Anlagen 4 und 5) und § 6 Abs. 3 Nr. 8 des Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets aus dem Jahre 1991 (AAÜG) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 11. November 1996 (AAÜG-ÄndG 1996) und des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes vom 27. Juli 2001 (2. AAÜG-ÄndG 2001) mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar sind.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 30. Juni 2005 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Bereits bestandskräftige Bescheide bleiben von dieser Entscheidung für die Zeit vor der Bekanntgabe der Entscheidung unberührt.

1.a. Zum rechtlichen Hintergrund:

Die Altersversorgung in der DDR umfasste eine einheitliche Sozialversicherung und eine ergänzende freiwillige Zusatzrentenversicherung. Darüber hinaus bestanden zahlreiche Zusatzversorgungssysteme. Für bestimmte Gruppen von Staatsbediensteten existierten Sonderversorgungssysteme. Nach dem Einigungsvertrag sind die Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen. Dabei sind "ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen". Eine "Besserstellung gegenüber vergleichbaren Ansprüchen und Anwartschaften aus anderen öffentlichen Versorgungssystemen" soll nicht erfolgen. Das AAÜG setzte diese Vorgaben um. Zeiten der Zugehörigkeit zu Zusatz- und Sonderversorgungssystemen galten danach als Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Arbeitsentgelte und -einkommen werden dabei höchstens bis zur Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtigt. Darüber hinausgehende Entgeltbegrenzungen sah das AAÜG im Falle der Zugehörigkeit zu "staats- und systemnahen" Versorgungssystemen sowie der Ausübung "systemnaher" Funktionen vor.

Diese weitergehenden Entgeltbegrenzungsvorschriften des AAÜG in der Fassung von 1993 erklärte das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 28. April 1999 für die Zeit nach dem 1. Juli 1993 wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) für verfassungswidrig (Pressemitteilungen Nr. 49/99 vom 28. April 1999 und Nr. 83/98 vom 16. Juli 1998): Der Gesetzgeber habe in einer unzulässig typisierenden Weise unterstellt, dass die Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen der von den Regelungen erfassten Personen durchweg überhöht gewesen seien. Es fehlte nämlich an aussagekräftigen Zahlen über Lohn- und Gehaltsstrukturen in der DDR, über das Einkommensgefüge in den einschlägigen Beschäftigungsbereichen und über das Verhältnis der dort erzielten Verdienste zum volkswirtschaftlichen Mittelwert. Allein aus der "Staats- und Systemnähe" der Berufstätigkeit könne nicht geschlossen werden, dass die betroffenen Personengruppen durchgängig Entgelte erhalten hätten, die nicht durch Arbeit und Leistung gerechtfertigt gewesen seien. Für die Entgeltbegrenzung müsse ein sachgerechter Kürzungsmechanismus gewählt werden. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, bis zum 30. Juni 2001 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Das AAÜG-ÄndG 1996 änderte - also noch vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts - in § 6 Absätze 2 und 3 die genannten Entgeltbegrenzungen für Bezugszeiten ab dem 1. Januar 1997 zu Gunsten der Betroffenen ab. Danach sind von Kürzungen betroffen nur noch Angehörige "staats- oder systemnaher" Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in einkommensmäßig privilegierter Stellung und Personen in "staats- oder systemnahen" Funktionen mit einer ebenfalls einkommensmäßig besonders hervorgehobenen Stellung. Ziel des Gesetzes ist nach wie vor der Abbau überhöhter Leistungen. Dazu wird das Einkommen, ab dem eine Entgeltbegrenzung stattfindet, durch die Gehaltsstufe E 3 (ab 1985: Gehaltsstufe 12) einschließlich Aufwandsentschädigung bestimmt. Ab dieser Grenze wird der Rentenberechnung das durchschnittliche Jahresarbeitseinkommen der Beschäftigten in der DDR als Arbeitsentgelt zugrunde gelegt. Nach dem 2. AAÜG-ÄndG 2001 tritt die durch das AAÜG-ÄndG 1996 erfolgte Anhebung der Entgeltbegrenzungsstufe rückwirkend zum 1. Juli 1993 in Kraft.

1.b. Zu dem der Kammerentscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt:

Das Bundesverfassungsgericht hat mit weiterem Urteil vom 28. April 1999 (Pressemitteilung Nr. 51/1999 vom 28. April 1999) entschieden, dass die Berücksichtigung der Arbeitsentgelte von Angehörigen des Sonderversorgungssystems des MfS/AfNS lediglich bis zur Höhe der jeweiligen Durchschnittsentgelte verfassungsrechtlich zulässig ist. Es hat weiter festgestellt, dass der Gesetzgeber zu einer weitergehenden Berücksichtigung der Arbeitsentgelte verfassungsrechtlich nicht verpflichtet ist. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durfte der Gesetzgeber für den MfS/AfNS davon ausgehen, dass in diesem Bereich deutlich überhöhte Entgelte gezahlt wurden. In Umsetzung dieses Urteils hat der Gesetzgeber mit dem 2. AAÜG-ÄndG 2001 den maßgeblichen Jahreshöchstverdienst in Höhe des im jeweiligen Jahr im Beitrittsgebiet erzielten Durchschnittsentgelts festgesetzt. Der Beschwerdeführer (Bf) war Angehöriger des MfS, zuletzt im Rang eines Obersten. Er gehörte dem Sonderversorgungssystem der Angehörigen des MfS/AfNS an. Seiner Auffassung nach ist das genannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf einer falschen Tatsachengrundlage ergangen und daher zu korrigieren. Im Bereich des MfS könne nicht generell von der Zahlung überhöhter Arbeitsentgelte ausgegangen werden.

1.c. Zu den der Senatsentscheidung zugrunde liegenden Sachverhalten:

Bei dem Kläger des ersten Ausgangsverfahrens handelt es sich um einen früheren Obersten der Nationalen Volksarmee, der von 1969 bis 1990 in diesem Dienstrang als Direktor eines VEB (Vermessungswesen) gearbeitet hatte. Er gehörte der Sonderversorgung der Angehörigen der Nationalen Volksarmee an. Der Kläger des zweiten Verfahrens ist promovierter Jurist, der als Präsident des Patentamts der DDR viele Jahre eine hauptamtliche Berufungsfunktion im Staatsapparat oberhalb der Kreisebene ausgeübt hatte. Er war Mitglied der freiwilligen Zusatzversorgung für hauptamtliche Mitarbeiter des Staatsapparates der DDR. Der Kläger des dritten Verfahrens war früher Abteilungsleiter im Bauministerium gewesen. Er hatte der zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz und später der freiwilligen zusätzlichen Altersversorgung für hauptamtliche Mitarbeiter des Staatsapparates angehört. Sie wehren sich gegen die Begrenzungen der von ihnen erzielten Arbeitsentgelte nach dem AAÜG - ÄndG 1996 und dem 2. AAÜG- ÄndG 2001.

Die von ihnen angerufenen Sozialgerichte sind davon überzeugt, dass die jeweiligen Rechtsgrundlagen für die Entgeltbegrenzungen gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Die Änderungsgesetze hätten lediglich die Gruppe der Betroffenen verkleinert. Es fehle an tatsächlichen Anhaltspunkten dafür, dass überhöhte Arbeitsentgelte gerade an die vom Gesetz erfassten Personen gezahlt worden seien oder dass gerade Entgelte ab den vom Gesetz festgelegten Grenzen als überhöht angesehen werden müssten. Aus der besonderen "Staats- und Systemnähe" der Berufstätigkeit alleine folge nicht, dass diesen Personengruppen durchgängig Entgelte gezahlt worden seien, die nicht durch Arbeit und Leistung gerechtfertigt und deshalb insoweit überhöht gewesen seien. Auch gebe es in den konkreten Fällen der jeweiligen Kläger keine Hinweise darauf, dass die ihnen zugeflossenen Arbeitsentgelte auf politischer Vergünstigung beruht hätten.

2.a. In den Gründen der Kammerentscheidung heißt es: Die Vb hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Bf stellt mit seinem Vortrag und den von ihm vorgelegten Gutachten die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht in Frage. Die Gutachter legen keine sachlich und zeitlich umfassende, auf der Grundlage neuerer Erkenntnisse erarbeitete Analyse des Besoldungs- und Versorgungssystems im Bereich des MfS/AfNS vor. Im Unterschied zu anderen Arbeitsbereichen waren die Beschäftigten- und Qualifikationsstruktur sowie die Struktur der beim MfS/AfNS erzielten pro Kopf- und Durchschnittseinkommen nicht hinreichend erfasst. Eben deshalb darf der Gesetzgeber bei der Entgeltbegrenzung der Angehörigen dieser Gruppe pauschal einstufen und bewerten, ohne daran von Verfassungs wegen gehindert zu sein. Beide Gutachten bestätigen im Übrigen die überdurchschnittlichen Arbeitsverdienste der Mitarbeiter des MfS/AfNS. Schon der mit der Selbstprivilegierung dieses Staatsbereichs vertraute Gesetzgeber der DDR hat die überhöhten Versorgungen im Bereich des MfS/AfNS im Juli 1990 pauschal gekürzt. Daran konnte der gesamtdeutsche Gesetzgeber anknüpfen.

2.b. In den Gründen der Senatsentscheidung heißt es:

Die zur Prüfung gestellten Entgeltbegrenzungen in der Fassung des AAÜG-ÄndG 1996 und des 2. AAÜG-ÄndG 2001 verstoßen gegen Art. 3 Abs.1 GG. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen darf der Gesetzgeber typisieren, ohne allein wegen der damit verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. An die Zulässigkeit einer Typisierung sind allerdings Anforderungen zu stellen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 28. April 1999 (Pressemitteilung Nr. 49/1999 vom 28. April 1999) für den Bereich des AAÜG näher bestimmt hat. An diesen Grundsätzen hält der Erste Senat fest.

Die nunmehr zu prüfenden Entgeltbegrenzungsvorschriften werden diesen Maßstäben nicht gerecht. Sie benachteiligen Personengruppen, zu denen die Kläger der Ausgangsverfahren gehören, insbesondere in zweierlei Richtung: zum einen gegenüber Versicherten mit Anspruch auf eine Zusatzversorgung, deren Versorgungssystem von den Entgeltbegrenzungsvorschriften nicht erfasst wird, zum anderen gegenüber Versicherten, deren Versorgungssystem zwar erfasst wird, deren Entgelte jedoch die E3-Grenze nicht erreichen. Die von diesen Vergleichsgruppen erzielten Entgelte werden bei der Rentenberechnung nur durch die Beitragsbemessungsgrenze gekappt. Bei der Gruppe der Kläger der Ausgangsverfahren hingegen werden die berücksichtigungsfähigen Arbeitsverdienste immer auf ein Durchschnittseinkommen abgesenkt.

Die Unzulässigkeit der Typisierung ergibt sich zunächst aus der Wahl der in die Rentenkürzung einbezogenen Berufsgruppen und der Wahl der maßgeblichen Entgelthöhe. Mit der Neuregelung hat der Gesetzgeber ohne weitere tatsächliche Erkenntnisse lediglich die benachteiligte Gruppe verkleinert, den Kürzungsmechanismus aber sogar vergröbert. Das Ziel des Gesetzgebers, Versorgungszusagen, denen keine entsprechende Leistung zugrunde lag und die politisch motiviert waren, die Anerkennung zu versagen, ist zwar legitim. Es wird jedoch mit der Neuregelung nicht erreicht. Es gibt nach wie vor keine hinreichend tatsächlichen Erkenntnisse dafür, dass an die Angehörigen der von der Neuregelung erfassten Personengruppen überhöhte Arbeitsentgelte gezahlt wurden. Zwar mildert die Neuregelung die Höhe des Arbeitsentgelts als Abgrenzungskriterium in der Wirkung ab, jedoch wurde die Abgrenzung der Berechtigten nach ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Versorgungssystemen unverändert gelassen. Auch die Neuregelung beruht insoweit auf der unzulässigen Gleichstellung von "hohem Einkommen" und "überhöhtem Einkommen".

Die Typisierung ist umgekehrt auch deshalb unzulässig, weil verschiedene Berufsgruppen ohne erkennbaren Grund nicht in die Kürzung von Versorgungsrenten einbezogen worden sind. Der Gesetzgeber hat weiter die im Laufe der Zeit erfolgten Veränderungen im Einkommensgefüge der DDR nicht hinreichend berücksichtigt. Die Gehaltsstufe E 3 entsprach 1950 dem neunfachen des Durchschnitts, 1989 aber nur noch einem den Durchschnitt des Einkommens wesentlich weniger übersteigenden Gehalt. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Arbeitsentgelte ohnehin nur noch bis zur allgemeinen Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigungsfähig sind und damit bereits durch die Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung hohe und möglicherweise überhöhte Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen unterschiedslos begrenzt worden sind.

Schließlich sind altersabhängige Einkommenselemente nicht im Einklang mit Art. 3 Abs. 1 GG geregelt. Weshalb eine altersbedingte Steigerung des Arbeitsentgelts in politischer Begünstigung begründet sein soll, ist nicht erkennbar. Weiter ist der gewählte Kürzungsmechanismus gleichheitswidrig, indem er alle von ihm erfassten Arbeitsentgelte "fallbeilartig" auf das Durchschnittseinkommen kürzt und den Betroffenen - selbst ohne Funktionsänderung - weit hinter den Rentenbetrag zurückfallen lässt, der ihm zuvor für seine niedrigeren Entgelte zugeordnet war. Die Neuregelung lässt sich auch nicht mit Blick auf das Gebot der Gerechtigkeit und im Interesse der politischen Akzeptanz damit rechtfertigen, dass die Opfer des SED-Regimes auf der Grundlage des Gesetzes über die berufliche Rehabilitierung oft nur eine sehr geringe Altersversorgung erhalten. Ein solcher Zusammenhang trägt verfassungsrechtlich zur Rechtfertigung der hier festgestellten Ungleichbehandlung nicht.

Karlsruhe, den 7. Juli 2004