Bundesverfassungsgericht

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Klage der beiden Bundestagsabgeordneten gegen Bundestagsauflösung erfolglos

Pressemitteilung Nr. 78/2005 vom 25. August 2005

Urteil vom 25. August 2005
2 BvE 4/05

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Organklage der Bundestagsabgeordneten Hoffmann und Schulz, die sich gegen die Anordnung des Bundespräsidenten vom 21. Juli 2005 über die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages und über die Festsetzung der Wahl auf den 18. September 2005 gewandt hatten, als unbegründet zurückgewiesen. Die angegriffenen Entscheidungen des Bundespräsidenten seien mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein dem Zweck des Art. 68 GG widersprechender Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, lasse sich nicht feststellen. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, sei keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen.

Die Entscheidung ist im Ergebnis mit 7 : 1 Stimmen ergangen, im Hinblick auf den Maßstab der Entscheidung (vgl. Ziff. II) mit 5 : 3 Stimmen. Die Richterin Lübbe-Wolff, die die Entscheidung im Ergebnis mitträgt, sowie der Richter Jentsch, der sie nicht mitträgt, haben der Entscheidung jeweils eine abweichende Meinung angefügt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Der Bundespräsident trifft die auf Art. 68 GG gestützte Entscheidung, den Bundestag aufzulösen oder aber dem Antrag des Bundeskanzlers nicht Folge zu leisten, als politische Leitentscheidung in eigener Verantwortung nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Auflösung des Deutschen Bundestages vor Ablauf der Wahlperiode greift in den Abgeordnetenstatus der Antragsteller ein und ist nur gerechtfertigt, wenn das Grundgesetz dies erlaubt.

II. Die auf Auflösung des Bundestages gerichtete Vertrauensfrage ist nur dann verfassungsgemäß, wenn sie nicht nur den formellen Anforderungen, sondern auch dem Zweck des Art. 68 GG entspricht.

1. Das Grundgesetz erstrebt mit Art. 63, Art. 67 und Art. 68 die Gewährleistung einer handlungsfähigen Regierung. Handlungsfähigkeit bedeutet nicht nur, dass der Kanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtlinien der Politik bestimmt und dafür die Verantwortung trägt, sondern hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages hinter sich weiß. Ob der Kanzler über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügt, kann von außen nur teilweise beurteilt werden. Aus den parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen kann sich ergeben, dass der Öffentlichkeit teilweise verborgen bleibt, wie sich das Verhältnis des Bundeskanzlers zu den seine Politik tragenden Fraktionen entwickelt.

2. Die Entstehungsgeschichte des Art. 68 GG bestätigt, dass die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage nur dann gerechtfertigt sein soll, wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist. Gemessen am Sinn des Art. 68 GG ist es nicht zweckwidrig, wenn ein Kanzler, dem Niederlagen im Parlament erst bei künftigen Abstimmungen drohen, bereits eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage stellt. Denn die Handlungsfähigkeit geht auch dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung offenen Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen ist, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu verfolgen. Der Kanzler muss zwar unter der Kontrolle und unter Mitwirkung des Bundestages handeln und sich insofern um den alltäglichen Kompromiss bemühen. Allerdings ist die Bundesregierung als eigenständiges politisch gestaltendes Verfassungsorgan konzipiert, das Verantwortung vor dem Deutschen Bundestag und vor den Bürgern nur übernehmen kann, wenn es im Rahmen der Kompetenzordnung über ausreichende eigenständige politische Handlungsspielräume verfügt.

3. Das Bundesverfassungsgericht prüft die zweckgerechte Anwendung des Art. 68 GG nur in dem von der Verfassung vorgesehenen eingeschränkten Umfang.

a) Die Beurteilung des zweckgemäßen Gebrauchs der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage kann auf praktische Schwierigkeiten stoßen. Ob eine Regierung politisch noch handlungsfähig ist, hängt maßgeblich davon ab, welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerständen sie aus dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat. Derartige Einschätzungen haben Prognosecharakter und sind an höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende Lagebeurteilungen gebunden. Eine Erosion und der nicht offen gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und feststellen. Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht vollständig offenbart werden. Die Einschätzung des Bundeskanzlers, er sei für seine künftige Politik nicht mehr ausreichend handlungsfähig, ist eine Wertung, die durch das Bundesverfassungsgericht schon praktisch nicht eindeutig und nicht vollständig überprüft werden kann und ohne Beschädigung des politischen Handlungssystems auch nicht den üblichen prozessualen Erkenntnismitteln zugänglich ist.

b) Das Grundgesetz hat die Entscheidung über die Auflösung des Bundestages nicht einem Verfassungsorgan allein in die Hand gegeben, sondern sie auf drei Verfassungsorgane verteilt und diesen dabei jeweils eigene Verantwortungsbereiche zugewiesen. Die drei Verfassungsorgane - der Bundeskanzler, der Deutsche Bundestag und der Bundespräsident - haben es jeweils in der Hand, die Auflösung nach ihrer freien politischen Einschätzung zu verhindern. Dies trägt dazu bei, die Verlässlichkeit der Annahme zu sichern, die Bundesregierung habe ihre parlamentarische Handlungsfähigkeit verloren. Die Verantwortungskette beginnt mit dem Bundeskanzler, weil ohne seinen Antrag kein Weg zur Auflösung des Deutschen Bundestages führt. Der Deutsche Bundestag entscheidet in Kenntnis des Art. 68 GG, ob er mittels einer Verweigerung der Vertrauensbekundung den Weg zur Auflösung eröffnet. Als drittes Verfassungsorgan nimmt der Bundespräsident in eigener Verantwortung eine rechtliche Beurteilung der Voraussetzungen des Art. 68 GG vor. Wegen des dreistufigen Entscheidungsprozesses sind die Überprüfungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des Art. 68 GG weiter zurückgenommen als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug. Das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf das in Art. 68 GG angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten obersten Verfassungsorganen. Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung entgegentreten.

c) Auch wenn ein drohender Verlust politischer Handlungsfähigkeit am sachnächsten vom Bundeskanzler selbst beurteilt werden kann, hat das Bundesverfassungsgericht zu prüfen, ob die Grenzen seines Einschätzungsspielraums eingehalten sind. Fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass der Bundeskanzler für sein Regierungshandeln und seine politische Konzeption die parlamentarische Mehrheitsunterstützung verloren hat oder zu verlieren droht, kann er sich nicht erfolgreich auf seine Einschätzungsprärogative berufen. Dieser Rückgriff muss auf Tatsachen gestützt sein. Die allgemeine politische Lage sowie einzelne Umstände müssen dabei allerdings nicht zwingend zur Einschätzung des Kanzlers führen, sondern sie lediglich plausibel erscheinen lassen. Der Einschätzungsspielraum des Kanzlers wird nur dann in verfassungsrechtlich gefordertem Umfang geachtet, wenn bei der Rechtsprüfung gefragt wird, ob eine andere Einschätzung der politischen Lage auf Grund von Tatsachen eindeutig vorzuziehen ist. Tatsachen, die auch andere Einschätzungen als die des Kanzlers zu stützen vermögen, sind nur dann geeignet, die Einschätzung des Bundeskanzlers zu widerlegen, wenn sie keinen anderen Schluss zulassen als den, dass die Einschätzung des Verlusts politischer Handlungsfähigkeit im Parlament falsch ist.

III. Die angegriffenen Entscheidungen des Bundespräsidenten sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

1. Ein zweckwidriger Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, lässt sich nicht feststellen. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, ist keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen.

a) Der Bundeskanzler hat Tatsachen benannt, die für seine Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse im Deutschen Bundestag sprechen. In der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 1. Juli 2005 hat der Kanzler zur Begründung seiner Vertrauensfrage unter anderem angeführt, sein Reformprogramm der "Agenda 2010" habe zu Streit nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch in seiner Partei, der SPD, geführt. Er sprach dabei von "heftigen Debatten", die dadurch verstärkt worden seien, dass die SPD seit dem Beschluss der "Agenda 2010" bei sämtlichen Landtagswahlen und der Europawahl Stimmen verloren habe. Er befürchte daher, dass künftig in zentralen Feldern seiner Regierungspolitik, vor allem von der "Agenda 2010", abweichende Stimmen die Mehrheit gefährden würden. Er hat auch erklärt, weshalb öffentliche Loyalitätsbekundungen, zu denen sich nach seiner Ankündigung, auf Neuwahlen hinwirken zu wollen, eine Reihe von Abgeordneten veranlasst sah, an dieser Einschätzung nichts geändert haben. Damit hat der Kanzler sowohl Tatsachen genannt als auch eine Einordnung in einen politischen Kontext vorgenommen, auf die er seine Bewertung und seine Schlussfolgerung stützt. Der hergestellte politische Zusammenhang mit der anhaltenden Kritik an seiner Politik der "Agenda 2010" und den seit 2003 für die SPD ganz überwiegend verloren gegangenen Landtagswahlen bezieht sich auf allgemein zugängliche Tatsachen. Diese Sicht des Bundeskanzlers wird vom Partei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD ausdrücklich geteilt. Dieser hatte am 1. Juli 2005 im Parlament unwidersprochen mitgeteilt, er habe dem Bundeskanzler "gesagt", dass er vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Sorge gehabt habe "um die Handlungsfähigkeit" seiner Partei und Fraktion und damit letztlich der Bundesregierung. Diese Ausführungen sind nicht nur eine Bestätigung der Wertung des Bundeskanzlers, sie enthalten auch die Wiedergabe einer zusätzlichen Tatsache. Danach hat derjenige, der bei der Gewährleistung der stetigen parlamentarischen Unterstützung der Regierungspolitik am engsten mit dem Kanzler zusammenarbeitet, ihm vor der Landtagswahl vom 22. Mai 2005 von seinen Sorgen um die Handlungsfähigkeit der Regierung berichtet. Die Antragsteller bestreiten zwar, dass die Sorge des Fraktionsvorsitzenden in der Sache berechtigt gewesen sei. Der Kanzler allerdings durfte seiner Einschätzung zu Grunde legen, dass der maßgeblich seine Politik unterstützende SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende ihm im Zusammenhang mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für eine Unterstützung der Politik des Kanzlers durch die Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag keine Gewähr mehr geben konnte.

b) Auch die politische Gesamtlage steht der Plausibilität der Einschätzung des Bundeskanzlers nicht entgegen. Die Annahme fehlender politischer Handlungsfähigkeit im Parlament fügt sich widerspruchsfrei in eine politische Ereignislinie ein, die seit der Ankündigung der "Agenda 2010" die Wahlperiode des 15. Deutschen Bundestages begleitet hat. Die Kritik war zuvor so weit gegangen, dass Vertreter der Partei-Linken den Rücktritt von Gerhard Schröder als SPD-Parteivorsitzender verlangt hatten. Es entspricht auch allgemeiner Erfahrung, dass mit jeder für eine Regierungspartei verlorenen Landtagswahl sich für den Bundeskanzler verstärkter politischer Druck aufbaut, von dem eingeschlagenen politischen Weg abzuweichen, wenn dieser Weg als unpopulär gilt.

c) Es sind keine Tatsachen vorgetragen oder erkennbar, die die Einschätzung des Bundeskanzlers unzweifelhaft widerlegen.

aa) Als eindeutige Widerlegung der Einschätzung des Bundeskanzlers wird sein schon am 22. Mai 2005 und seitdem mehrfach vorgetragenes Argument angeführt, er wolle sich ein neues Mandat für seine Politik vom Wähler verschaffen. Der Begründung, das Volk über die Politik des Kanzlers entscheiden zu lassen, fehlt bereits durch ihre rhetorische Qualität und ihre Mehrdeutigkeit die Eignung, als entgegenstehende Tatsache die Einschätzung des Kanzlers eindeutig zu widerlegen.

bb) Die Einschätzung des Kanzlers wird ferner nicht dadurch unglaubwürdig oder widerlegt, dass er ergänzend auf die politischen Verhältnisse des Bundesrates abstellt. Denn damit macht er nur kenntlich, dass seine politische Bewegungsfreiheit für die von ihm für richtig gehaltene Politik gegenüber seiner Fraktion durch einen von der Opposition beeinflussten Bundesrat zusätzlich geschmälert wird. Kompromisse, die er im Vermittlungsausschuss eingehen muss, um die Zustimmung des Bundesrates zu gewinnen, und die er ohne Verletzung seines Konzepts auch noch eingehen kann, vermindern möglicherweise in der Folge die Aussichten, seine politische Linie in den Regierungsfraktionen durchzusetzen.

cc) Die Einschätzung des Bundeskanzlers, es habe ihm der Verlust der politischen Handlungsfähigkeit gedroht, wird auch nicht dadurch widerlegt, dass der Fraktionsvorsitzende Müntefering bei der Aussprache zur Vertrauensfrage des Bundeskanzlers am 1. Juli 2005 davon gesprochen hat, dass der Kanzler das Vertrauen der SPD-Fraktion besitze. Diese Äußerung fiel im Zusammenhang mit der Feststellung, dass die Fraktion den Bundeskanzler weiter als Bundeskanzler haben wolle; sie bezog sich ersichtlich allein auf die insoweit unumstrittene Person des Kanzlers und hatte nicht den Sinn, vorausgegangene, die Einschätzung des Bundeskanzlers bestätigende Äußerungen zurückzunehmen.

dd) Als zweifelsfreie Widerlegung der Einschätzung des Kanzlers wird der Umstand angeführt, dass zwischen dem 22. Mai und dem 1. Juli 2005 die angeblich instabile Koalitionsmehrheit eine Vielzahl von zum Teil umstrittenen Gesetzen mit Mehrheit verabschiedet und dadurch ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt habe. In der Sitzung des Deutschen Bundestages am Vortag der Vertrauensfrage stand jedoch kein Gesetzesvorhaben auf der Tagesordnung, das als Abkehr von der politischen Konzeption des Kanzlers zu betrachten wäre und damit seiner Argumentation die Plausibilität nähme. Umgekehrt handelte es sich auch nicht um Gesetze, die von seinen innerparteilichen Kritikern als Zumutung hätten empfunden werden können. Die unter anderem beschlossene Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose ist zwar eine Korrektur an der ursprünglichen Arbeitsmarktreform. Es handelt sich aber dabei nicht um einen gravierenden Einschnitt in die Reformkonzeption und erst recht nicht um eine grundsätzliche Abkehr von der damit verbundenen politischen Zielsetzung.

ee) Die Annahme der Antragstellerin Hoffmann, die Absetzung der geplanten Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes von der Tagesordnung des Deutschen Bundestages vom 30. Juni 2005 stehe im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage, ist ebenfalls nicht eindeutig. Die Mehrdeutigkeit ergibt sich schon daraus, dass die geplanten Gesetzesänderungen keinen Bezug zu umstrittenen Grundsatzfragen der Arbeitsmarktreformpolitik aufwiesen und deshalb weder für die fraktionsinternen Kritiker der Politik des Bundeskanzlers noch wiederum für den Kanzler und seine Reformpolitik ein gravierendes politisches Zugeständnis verlangten. Insofern war die Änderung des Entsendegesetzes kein Test für die Verlässlichkeit der Koalitionsmehrheit.

2. Die Anordnungen des Bundespräsidenten lassen keine Ermessensfehler erkennen.

Zum Sondervotum des Richters Jentsch

Nach Überzeugung des Richters Jentsch hätte den Anträgen stattgegeben werden müssen. Den vom Bundeskanzler vorgetragenen Gründen lässt sich seine politische Handlungsunfähigkeit und damit eine materielle Auflösungslage nicht entnehmen (1.). Zudem kennt das Grundgesetz kein "konstruiertes Misstrauen" des Kanzlers gegenüber dem Parlament (2.). Schließlich schwächt die Auffassung der Senatsmehrheit die Stellung des Deutschen Bundestages (3.).

1. Für das verfassungsrechtlich allein relevante Argument, eine stetige und verlässliche Mehrheit stehe dem Kanzler nicht mehr zur Verfügung, weil verschiedene Abgeordnete mit abweichendem Stimmverhalten drohten, gibt es keine sichtbar gewordenen oder nachprüfbaren Anhaltspunkte. Die gegenteilige Auffassung der Senatsmehrheit beruht auf einem Abgehen von den zutreffenden Maßstäben der Entscheidung vom 16. Februar 1983 (BVerfGE 62, 1), ohne dies kenntlich zu machen. Die Bundesregierung hat in der zurückliegenden Legislaturperiode niemals die Kanzlermehrheit verfehlt. Die eingebrachten Gesetzentwürfe zur Umsetzung der "Agenda 2010" waren im Bundestag erfolgreich. Auch die parteiinternen Kritiker haben für die Regierungsvorlagen gestimmt. Selbst die noch ausstehenden "20 Maßnahmen zur Fortsetzung der Agenda 2010" sind in der SPD-Fraktion einhellig beschlossen worden. Dass es für eine Fortführung dieser Reformprojekte an einer ausreichenden parlamentarischen Unterstützung fehlt, entbehrt daher einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage. Vielmehr begründet das Geschehen im Deutschen Bundestag eine Vermutung dafür, dass der Kanzler auf eine Unterstützung der Parlamentsmehrheit auch in Zukunft rechnen kann. Dieser Anschein wird durch die Begleitumstände der Vertrauensfrage weiter gestützt. So ist die am Vortag der Vertrauensabstimmung angesetzte Beschlussfassung über den Entwurf eines Arbeitnehmerentsendegesetzes trotz gesicherter Mehrheit kurzfristig abgesetzt worden, weil die Aktualisierung der Kanzlermehrheit "schlecht aussehe". Bemerkenswert erscheint schließlich auch, dass die Mitglieder der SPD-Fraktion zur Stimmenthaltung in der Vertrauensfrage nur dadurch bewogen werden konnten, dass ihr Parteivorsitzender sie ihnen als Vertrauensbekundung für den Kanzler andiente. Fehlende Mehrheiten sehen anders aus. Sie bedürfen keines "konstruierten Misstrauens".

2. Würde man dem Bundeskanzler unter Hinweis auf seine Einschätzungsprärogative zugestehen, auch in Situationen wie der vorliegenden die Vertrauensfrage zu stellen, so käme dies dem parlamentarischen Selbstauflösungsrecht sehr nahe. Diesen Weg kennt das Grundgesetz aber aus guten Gründen und im Interesse der Stabilität des politischen Systems nicht. Ein solch weiter Entscheidungsspielraum des Bundeskanzlers gibt die materiellen Voraussetzungen preis, die das Bundesverfassungsgericht als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 festgestellt hat (vgl. BVerfGE 62, 1 ). Er entzieht Bundespräsident und Verfassungsgericht jegliche Beurteilungsgrundlage, wenn allein die Lagebeurteilung des Kanzlers maßgeblich ist. Dem Verweis der Senatsmehrheit auf eine vermeintlich "verdeckte Minderheitssituation" des Bundeskanzlers, in der die politische Unterstützung der parlamentarischen Mehrheit nur "äußerlich" geleistet werde, liegt ein unzutreffendes Verständnis des Begriffs des parlamentarischen Vertrauens zu Grunde. Vertrauen bedeutet im parlamentarischen Regierungssystem die Bereitschaft des Abgeordneten, Person und Regierungsprogramm des Bundeskanzlers parlamentarisch zu unterstützen. Das bedeutet, bei den Abstimmungen im Deutschen Bundestag zum Kanzler und seinen Vorhaben zu stehen. Ob der Abgeordnete dem Kanzler auch persönlich vertraut oder die Sache anders sieht, spielt keine Rolle. Dissens gehört zum Wesen der innerparteilichen Demokratie und beeinträchtigt die Handlungsfähigkeit der Regierung solange nicht, wie sie bei den Abstimmungen über ihre zentralen Reformpläne auf eine parlamentarische Mehrheit bauen kann. Eine weitergehende "Unterordnung" oder "Gleichschaltung" mit den Vorstellungen des Kanzlers ist nicht erforderlich und im ausbalancierten System des Grundgesetzes auch nicht vorgesehen.

3. Die hier vorliegende Instrumentalisierung der Vertrauensfrage schwächt die Stellung des Parlaments. Sie beinhaltet die Vorstellung, dass die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht (mehr) geeignet sind, den Willen des Volkes abzubilden. Zur Rückkopplung der Regierungspolitik müsse daher das Volk selbst befragt werden. Mit der Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie in unserer Verfassung und dem Auftrag des Abgeordneten ist dies nicht vereinbar. Die Senatsmehrheit erlaubt einem Bundeskanzler, über eine "unechte" Vertrauensfrage Neuwahlen herbeizuführen, wenn er die akklamatorische Bestätigung seiner Politik für erforderlich hält, um parteiinterne Widerstände zu überwinden. Dass es Bundeskanzler Schröder mit seinem Vorgehen um die Verschaffung gerade dieser Legitimation durch das Volk ging, hat er selbst nicht verschwiegen.

Zum Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff

Die Richterin Lübbe-Wolff stimmt der Entscheidung im Ergebnis zu, wendet sich aber gegen die zugrunde gelegte Auslegung des Art. 68 GG, mit der das Gericht eine bloße Kontrollfassade aufgebaut habe.

Die Vertrauensfrage sei, wie die Frage vor dem Traualtar, keine Wissensfrage, auf die so gut wie der Gefragte oder besser ein Anderer antworten könnte. Der Bundeskanzler, der die Vertrauensfrage stellt, frage nicht nach einem Wissen, sondern nach dem Willen des Parlaments, ihn und sein politisches Programm mit ihrem künftigen Abstimmungsverhalten zu unterstützen. Die Vertrauensfrage könne daher nur vom Parlament selbst beantwortet werden.

Die einschränkende materielle Auslegung, nach der Art. 68 GG eine Situation tatsächlich nicht mehr vorhandenen oder zweifelhaft gewordenen Vertrauens voraussetzt und das Vorliegen dieser Voraussetzung vom Bundespräsidenten und vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen ist, laufe dagegen darauf hinaus, dass die Antwort des Bundestages auf die Vertrauensfrage zur Überprüfung durch den Bundespräsidenten und das Bundesverfassungsgericht gestellt wird. Damit werde sie ihres adressatenabhängigen Sinns beraubt. Den Worten nach konzentriere sich zwar die Prüfung, ob verfassungsmäßig vorgegangen wurde, auf die vom Kanzler gestellte Frage. Tatsächlich werde aber mit der Prüfung, ob der Bundeskanzler eine "instabile Lage" fehlenden Vertrauens in verfassungswidriger Weise nur vorgespielt habe, auch die Entscheidung des Parlaments hinterfragt. Die Rolle, die das Bundesverfassungsgericht mit dieser Auslegung dem Bundespräsidenten und sich selbst zuweise, sei fehlbesetzt. Die vorgesehenen Akteure könnten und dürften sie nicht ausfüllen. Dies liege in der Natur der auf eine Willensbekundung gerichteten Vertrauensfrage und in der Natur des freien Mandats der Bundestagsabgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG).

Der Unangemessenheit dieser Auslegung sei nicht dadurch zu entkommen, dass dem Bundeskanzler für die Stellung der Vertrauensfrage ein Einschätzungsspielraum zugebilligt wird. Wenn dieser Einschätzungsspielraum von der Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichts etwas übriglasse, beseitige er das Problem nicht, das er lösen soll. Lasse er nichts davon übrig, dann bleibe auch von der materiellen Auslegung im Ergebnis nichts mehr übrig. Diese bilde dann nur noch den Ansatzpunkt für eine Kontrollinszenierung, in der das Bundesverfassungsgericht sich selbst eine bloß scheinbar belangvolle Rolle zugeschrieben habe.

Tatsächlich habe das Gericht den Einschätzungsspielraum so großzügig bemessen, dass das Bundesverfassungsgericht praktisch nicht mehr in die Lage kommen könne, die Einschätzung des Bundeskanzlers korrigieren zu müssen. Es verlange zwar eine Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit der Regierung durch nicht ausreichende Unterstützung des Parlaments, gestatte aber die Berufung auf eine vor Gericht nicht darstellbare "verdeckte Minderheitslage". Ein Tatbestandsmerkmal, das man mit dem Verweis auf Verborgenes und seiner Natur nach vor Gericht nicht Darstellbares belegen könne, führe nur noch eine juristische Scheinexistenz.

Mit der Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht dem Art. 68 GG zuschreibt, seien daher bloße Inszenierungen fehlender Verläßlichkeit der Bundestagsmehrheit nicht wirksam zu bekämpfen. Die Auslegung, nach Art. 68 GG genüge es nicht, dass der Antrag des Bundeskanzlers keine Kanzlermehrheit finde, drohe im Gegenteil solche Inszenierungen gerade hervorzurufen und erzeuge systematisch jedenfalls den Eindruck verfassungswidriger Inszenierung. Den Stabilitätsinteressen, auf die das Gericht sich für diese Auslegung berufe, sei das abträglicher als jede vorgezogene Neuwahl.

Das Recht befördere nicht gute Ordnung, sondern Simulation oder sogar die Herbeiführung gerade dessen, was vermieden werden soll, wenn es Forderungen aufstelle, gegen deren Umgehung oder scheinhafte oder herbeiinszenierte Erfüllung es nichts aufzubieten habe. Für den Eindruck des Unlauteren, den die Praxis unter solchen rechtlichen Rahmenbedingungen erwecken kann, und für das Mißtrauen gegen die Institutionen und die ordnende Kraft des Rechts, das sich daraus ergebe, seien dann die verfehlten Rechtsbedingungen selbst verantwortlich. Die angeblich vom Zweck des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG diktierte materielle Tatbestandsvoraussetzung, die Außenstehende zum Richter über die Existenz politischen Vertrauens im Parlament macht, sei eine solche verfehlte Rechtsbedingung. Nichts hindere das Gericht daran, sie aufzugeben. Keines der Argumente, die für die "materielle" Auslegung angeführt worden sind, sei zwingend. Auch die Entstehungsgeschichte bestätige diese Auslegung gerade nicht.

Karlsruhe, den 25. August 2005