Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Sitzungshaftbefehl

Pressemitteilung Nr. 114/2006 vom 29. November 2006

Beschluss vom 27. Oktober 2006
2 BvR 473/06

Gegen die Beschwerdeführerin war vor dem Amtsgericht ein Strafverfahren wegen uneidlicher Falschaussage anhängig. Nachdem bereits eine Hauptverhandlung stattgefunden hatte, bestimmte das Amtsgericht neuen Termin auf den 21. Dezember 2005. Ein Verlegungsgesuch des Verteidigers, der darauf hinwies, dass die Beschwerdeführerin an diesem Tag an einer von ihrer Krankenkasse genehmigten Kur im Bayerischen Wald teilnehme, lehnte das Amtsgericht ab.

Um an dem Kurs jedenfalls teilweise teilzunehmen, begab sich die Beschwerdeführerin am 19. Dezember 2005 in den Bayerischen Wald. Am Morgen des 21. Dezember 2005 teilte sie der Geschäftsstelle des Amtsgerichts telefonisch mit, sie sei "eingeschneit" und könne daher in der Hauptverhandlung nicht erscheinen. Daraufhin erließ das Amtsgericht in der Hauptverhandlung gegen die Beschwerdeführerin einen Haftbefehl ("Sitzungshaftbefehl" gem. § 230 Abs. 2 Strafprozessordnung; dieser setzt nur voraus, dass der Angeklagte der Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleibt). Aufgrund dieses Haftbefehls wurde die Beschwerdeführerin an einem Freitag im Januar 2006 verhaftet. In der zehn Tage später anberaumten Hauptverhandlung wurde die aus der Haft vorgeführte Beschwerdeführerin freigesprochen und der Haftbefehl aufgehoben.

Rechtsmittel der Beschwerdeführerin gegen den Haftbefehl wurden vom Oberlandesgericht verworfen, da die Beschwerdeführerin der Hauptverhandlung unentschuldigt ferngeblieben sei. Ihre hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob den Beschluss des Oberlandesgerichts auf, da er die Beschwerdeführerin in ihrem Freiheitsgrundrecht verletze. Das Oberlandesgericht habe die Verhältnismäßigkeit des Haftbefehls nur unzureichend geprüft. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Oberlandesgericht hat die Erwartung, dass die Beschwerdeführerin zu künftigen Hauptverhandlungsterminen nicht erscheinen werde, zunächst damit begründet, dass sie trotz des in jener Woche anstehenden Hauptverhandlungstermins ihre Kur im Bayerischen Wald angetreten habe. Dabei übersieht das Oberlandesgericht, dass die Beschwerdeführerin nicht verpflichtet war, wegen der anstehenden Hauptverhandlung gänzlich von dieser Kur Abstand zu nehmen, zumal bei Nichtteilnahme eine Gebühr von 69 € zu entrichten war. Die Vermutung, dass sie von vornherein beabsichtigt habe, der Verhandlung fernzubleiben, ist nicht belegt; dagegen spricht eine vom Verteidiger vorgelegte Bescheinigung der Gemeinde über schneebedingte Verkehrsbehinderungen.

Außerdem hat das Oberlandesgericht wesentliche Gesichtspunkte nicht gewürdigt, welche die Bereitschaft der Beschwerdeführerin, an weiteren Hauptverhandlungsterminen teilzunehmen, nahe legten. So hat sich das Oberlandesgericht nicht mit der Anwesenheit der Beschwerdeführerin in der früheren Hauptverhandlung auseinandergesetzt. Anlass zur Erörterung hätte hier umso mehr bestanden, als sich die Beweislage in jener Hauptverhandlung offenbar zu Gunsten der Beschwerdeführerin verändert hatte und sie im neuerlichen Termin mit einem Freispruch rechnen konnte. Darüber hinaus hat sich das Oberlandesgericht auch nicht damit auseinandergesetzt, dass das Amtsgericht noch am 22. Dezember 2005 um eine - ersichtlich unverhältnismäßige - Vollstreckung des Haftbefehls ersucht hatte, obwohl die Weihnachtstage bevorstanden und die Durchführung einer Hauptverhandlung nicht absehbar war. Das Oberlandesgericht hätte ferner die Möglichkeit eines Vorführbefehls (hier wird der Beschuldigte erst am Tag der Hauptverhandlung in Polizeigewahrsam genommen und dem Gericht vorgeführt) als milderes Mittel näher in Betracht ziehen müssen. Schließlich bedurfte auch die Dauer der Inhaftierung näherer Prüfung. Warum es hier erforderlich gewesen sein soll, die Beschwerdeführerin noch vor dem Wochenende zu verhaften und die Haft auf zehn Tage zu erstrecken, ist nicht dargelegt und erschließt sich auch nicht aus sonstigen Umständen.