Bundesverfassungsgericht

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Abführung von Vermögensrechten nicht auffindbarer Miterben an den Entschädigungsfonds verfassungsgemäß

Pressemitteilung Nr. 59/2010 vom 5. August 2010

Beschluss vom 21. Juli 2010
1 BvL 8/07

In der DDR standen zahlreiche Vermögenswerte - vor allem Grundstücke -, die nicht enteignet worden waren, unter staatlicher Zwangsverwaltung, die den Betroffenen bei formalem Fortbestand seines Eigentumsrechts in seinen Nutzungs- und Verfügungsbefugnissen über den ihm gehörenden Vermögenswert beschränkte und damit in ihren wirtschaftlichen Wirkungen weitgehend einer Enteignung gleichzusetzen war. Mit dem durch die Novelle des Vermögensgesetzes vom 14. Juli 1992 neu eingefügten § 11a VermG wurde die Aufhebung der staatlichen Verwaltung aller betroffenen Vermögenswerte unmittelbar kraft Gesetzes zum 31. Dezember 1992 angeordnet. Danach waren allerdings viele der ehemals staatlich verwalteten Grundstücke "faktisch herrenlos", weil der jeweilige Eigentümer oder dessen Aufenthalt immer noch nicht bekannt war. Nach dem am 1. Dezember 1994 in Kraft getretenen Entschädigungsgesetz sind solche faktisch herrenlosen Vermögenswerte, deren Eigentümer nicht ermittelbar ist und sich auch nach Durchführung eines Aufgebotsverfahrens nicht meldet, an den Entschädigungsfonds abzuführen, der durch das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen verwaltet wird. Aus dem Entschädigungsfonds werden u.a. Entschädigungen nach dem Entschädigungsgesetz und dem NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz sowie Ausgleichsleistungen für nicht mehr rückgängig zu machende Enteignungen erbracht. Durch das Änderungsgesetz vom 10. Dezember 2003 wurde in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Satz 2 EntschG schließlich bestimmt, dass auch solche Vermögensrechte der Abführung an den Entschädigungsfonds unterliegen, die nicht bekannten oder nicht auffindbaren Miteigentümern oder Miterben zustehen. In Folge dessen wird der Entschädigungsfonds Mitglied der Eigentümer- bzw. Erbengemeinschaft in Bezug auf den ehemals staatlich verwalteten Vermögenswert. Ansprüche auf eine Rückerstattung des an den Entschädigungsfonds übergeführten Miteigentums- oder Miterbenanteils für den Fall, dass sich der ausgeschlossene Rechtsinhaber oder seine Rechtsnachfolger später noch melden sollten, kennt das geltende Recht nicht.

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, für die ein Abwesenheitspfleger klagt, ist zu einem Drittel Miterbin nach ihrem Vater, der Eigentümer eines Grundstücks in Brandenburg war. Ihre beiden Schwestern haben ihre Erbansprüche rechtzeitig geltend gemacht. Nachdem der Aufenthaltsort der bereits 1965 nach Großbritannien verzogenen Klägerin trotz intensiver Recherchen nicht ermittelt werden konnte, schloss das Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen die Klägerin von ihrem Miterbenanteil an dem Grundstück aus und stellte fest, dass dieser auf die Bundesrepublik Deutschland - Entschädigungsfonds - übergehe. Die vom Abwesenheitspfleger dagegen erhobene Klage führte zur Vorlage des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Satz 2 EntschG durch das Bundesverwaltungsgericht, das die Vorschrift für unvereinbar mit Art. 14 Abs. 1 GG hält, soweit sie die Rechte von unauffindbaren Miterben betrifft.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Satz 2 EntschG mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit danach ein nicht auffindbarer Miterbe von seinen Rechten hinsichtlich ehemals staatlich verwalteter Vermögenswerte auch dann ausgeschlossen werden kann, wenn zumindest ein weiterer Miterbe bekannt und aufgefunden ist.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Eine auf der Grundlage früheren DDR-Rechts erworbene Miterbenstellung genießt den Schutz des Grundrechts auf Eigentum (Art. 14 GG). Der Eingriff in diese Rechtsposition durch die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Satz 2 EntschG geregelte Entziehung der Rechtsstellung des unauffindbaren Miterben genügt jedoch den Anforderungen, die bei einer Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums an einen gerechten Interessenausgleich zu stellen sind. Die Vorschrift dient dem legitimen Gemeinwohlziel, durch die Beseitigung einer faktischen Herrenlosigkeit der ehemals im Beitrittsgebiet staatlich verwalteten Vermögenswerte endgültige Eigentumsverhältnisse zu schaffen und auf diese Weise die Verkehrsfähigkeit von Grundstücken zu verbessern. Sie trägt damit zu einer geordneten Rechts- und Wirtschaftsentwicklung in den neuen Ländern bei. Der Gesetzgeber durfte im Rahmen des ihm bei der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern zustehenden Beurteilungsspielraums davon ausgehen, dass gerade die Unauffindbarkeit eines Miterben die Handlungsfähigkeit der Erbengemeinschaft einschränkt. Diese kann ohne den unauffindbaren Miterben nur Maßnahmen der ordnungsgemäßen Verwaltung oder der Notgeschäftsführung ergreifen. Auch durch die Bestellung eines Vertreters oder Pflegers für lediglich bestimmte Maßnahmen können solche Hemmnisse nicht mit gleicher Schnelligkeit beseitigt werden wie durch eine Überführung des Erbanteils an den Entschädigungsfonds, der regelmäßig die Veräußerung des Vermögenswertes betreiben wird.

§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Satz 2 EntschG führt für den ausgeschlossenen unauffindbaren Miterben auch nicht zu einer unverhältnismäßigen und unzumutbaren Belastung. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass nur solche Vermögenswerte betroffen sind, die seit geraumer Zeit vom Berechtigten, der trotz Ausschöpfung aller zumutbaren Ermittlungsmöglichkeiten unauffindbar geblieben ist, nicht in Anspruch genommen worden sind, obwohl hierzu die Möglichkeit bestanden hat. Der unauffindbare Miterbe hatte hier 13 Jahre lang Gelegenheit, sich um sein Erbe zu bemühen. Hinzu kommt, dass die Einleitung eines Aufgebotsverfahrens erst zulässig ist, nachdem das Bundesamt seiner Pflicht zur Ermittlung des Berechtigten mit den zu Gebote stehenden Mitteln genügt hat. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die besondere Situation nach der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands überwiegt das öffentliche Interesse an der Belebung des Grundstücksverkehrs und der Wirtschaftsentwicklung. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass der Entzug der Rechtsstellung des unauffindbaren Miterben kompensationslos erfolgt. Denn der an den Entschädigungsfonds abgeführte Wert dient nicht allgemeinen fiskalischen Zwecken, sondern kommt anderen Personen zugute, die mit dem ursprünglichen Rechtsinhaber als Opfer wiedergutzumachender Vermögensschädigungen im selben Lager stehen.

Die Beschränkung des Eigentumsrechts ist auch gleichheitsgerecht (Art. 3 Abs. 1 GG) ausgestaltet. Zwar können bei der Durchführung der Wiedergutmachung nach dem Vermögensgesetz durch Rückübertragung (Restitution) entzogener Vermögenswerte ebenfalls Erbengemeinschaften mit unauffindbaren Miterben entstehen, deren Erbanteile jedoch keinem Aufgebotsverfahren unterliegen. Diese Ungleichbehandlung ist aber angesichts des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers verfassungsrechtlich zulässig. Sie ist sachlich gerechtfertigt und damit nicht willkürlich. Der Gesetzgeber durfte dem Umstand Rechnung tragen, dass der faktischen Herrenlosigkeit nach Aufhebung der staatlichen Verwaltung durch Gesetz zum 31. Dezember 1992 eine gänzlich andere Bedeutung zukam als sonst bei Wiedergutmachungen nach dem Vermögensgesetz.

Weder die sich aus Art. 14 Abs. 1 GG ergebende grundrechtliche Stellung der anderen, präsenten Miterben noch die des Erblassers ist verletzt. Soweit den weiteren Miterben der Entschädigungsfonds als Mitglied der ungeteilten Erbengemeinschaft aufgezwungen wird, ist das für sich gesehen kein Eingriff in eine vermögenswerte Rechtsposition, zumal die Erbengemeinschaft ohnehin nicht auf Dauer angelegt ist. Die Grundrechtsposition des Erblassers ist nicht berührt, da der hier in Rede stehende Eingriff nicht seine Testierfreiheit oder sein Recht, sein Vermögen nach den gesetzlichen Regeln der Verwandtenerbfolge zu vererben, betrifft, sondern allein die Rechtsstellung desjenigen, der auf dieser Grundlage Miterbe geworden ist.