Bundesverfassungsgericht

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Vorlage des Bundessozialgerichts zur Normenklarheit der Regelung des Dienstbeschädigungsausgleichs nach dem "Absenkungsfaktor Ost" unzulässig

Pressemitteilung Nr. 54/2012 vom 12. Juli 2012

Beschluss vom 04. Juni 2012
2 BvL 9/08

Für Staatsbedienstete der ehemaligen DDR, die früher als Angehörige der Sonderversorgungssysteme der DDR bei Dienstbeschädigungen eine Dienstbeschädigungsteilrente erhielten, sieht das Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz (DbAG) seit 1997 eine eigenständige Leistung zum Ausgleich von Dienstbeschädigungen, den Dienstbeschädigungsausgleich, vor. Nach der für den hier maßgeblichen Zeitraum geltenden Fassung des § 2 Abs. 1 DbAG aus dem Jahr 2006, die rückwirkend zum 1. Januar 1997 in Kraft trat, war der Dienstbeschädigungsausgleich in Höhe der Grundrente nach § 31 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Verbindung mit § 84a BVG zu leisten. Letztere Vorschrift nahm Bezug auf Bestimmungen des Einigungsvertrags, die vorsahen, dass die Grundrente nach § 31 BVG mit einem bestimmten "Absenkungsfaktor Ost" zu kürzen war, der sich nach dem Verhältnis der verfügbaren Standardrente im Beitrittsgebiet zur verfügbaren Standardrente im alten Bundesgebiet berechnete. Hinsichtlich des Begriffs der "verfügbaren Standardrente" verwies die Regelung des Einigungsvertrages wiederum auf die Vorschrift des § 68 Abs. 3 SGB VI. Die darin enthaltene Definition der "verfügbaren Standardrente" wurde seit der ursprünglichen Fassung des § 68 Abs. 3 SGB VI aus dem Jahr 1989 und auch während des hier maßgeblichen Zeitraums ab 1999 mehrmals geändert.

Die Kläger der Ausgangsverfahren, die in der ehemaligen DDR Sonderversorgungssystemen der Nationalen Volksarmee bzw. der Deutschen Volkspolizei angehört hatten, erhielten aufgrund erlittener Dienstbeschädigungen ab dem Jahr 1997 einen Dienstbeschädigungsausgleich, jeweils gekürzt nach dem "Absenkungsfaktor Ost". Ihre auf Festsetzung des Dienstbeschädigungsausgleichs ohne Berücksichtigung des "Absenkungsfaktors" gerichteten Klagen führten zu den Vorlagen des Bundessozialgerichts, das die im Jahr 2006 erfolgte Neufassung des § 2 Abs. 1 DbAG insoweit mit den rechtsstaatlichen Geboten der Normenklarheit und Justiziabilität für unvereinbar hält, als die Vorschrift mittels einer Verweisungskette auf die Vorschrift des Einigungsvertrags über die Kürzung des Dienstbeschädigungsausgleichs nach einem "Umrechnungsfaktor Ost" verweise, zu dessen Ermittlung wiederum auf die Vorschrift des § 68 SGB VI verwiesen werde. Weder für einen juristisch unkundigen Normadressaten noch mit Hilfe herkömmlicher juristischer Auslegungsmethoden sei zu ermitteln, wie hoch der "Umrechungsfaktor Ost" sei und für welche Zeiträume er jeweils gelte.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Vorlagen unzulässig sind, weil sie nicht den Begründungsanforderungen genügen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Ein Gericht kann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat. Das setzt voraus, dass sich das Gericht mit der zur Prüfung gestellten Norm im Einzelnen auseinandersetzt, die in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Auffassungen berücksichtigt und auf unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten eingeht. Die verschiedenen Auffassungen zu den denkbaren Auslegungsmöglichkeiten des einfachen Rechts sind mit Blick auf den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt darzulegen, zu erörtern und verfassungsrechtlich zu würdigen. Geht es dabei um die Anforderungen an hinreichende Bestimmtheit und Klarheit der Norm, so hat das vorlegende Gericht insbesondere auch zu begründen, inwiefern eine Entscheidung für eine der dargelegten Auslegungsmöglichkeiten den Rahmen der Aufgabe der Rechtsanwendungsorgane sprengen würde, Zweifelsfragen zu klären und Auslegungsprobleme mit den herkömmlichen Mitteln juristischer Methode zu bewältigen.

Diesen Anforderungen werden die Darlegungen des Bundessozialgerichts zur Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 1 DbAG nicht gerecht. Der fachgerichtlichen Aufgabe, nach Wegen zu einer Sachentscheidung zu suchen, stellen die Vorlagebeschlüsse sich nicht. Es fehlt an der über das bloße Aufzeigen von Zweifelsfragen hinaus gebotenen Bemühung, den Regelungsgehalt der Norm mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden zu erschließen. Die Vorlagebeschlüsse führen zwar detailliert eine Fülle von Auslegungsfragen, insbesondere hinsichtlich der Kürzungsformel im Einigungsvertrag, auf und erklären mehrfach, dass mithilfe juristischer Auslegungsmethoden der maßgebliche Norminhalt nicht bestimmt werden könne. Sie versuchen jedoch allenfalls bruchstückhaft eine Auslegung der vorgelegten Norm; wo sie vereinzelt nicht beim Aufwerfen offener Fragen stehenbleiben, sondern selbst eine Auslegung unternehmen, zeigen sie nicht auf, dass mit der vorgenommenen oder unterstellten Auslegung die Kompetenzen der Rechtsprechung zur Klärung von Auslegungsfragen überschritten wären. So fehlt beispielsweise, wenn Auslegungsmöglichkeiten der Rechtsprechung mit Blick auf den Parlamentsvorbehalt verneint werden, eine Auseinandersetzung damit, dass die Auslegung gerade der Ermittlung des im Gesetz objektivierten Willens des Gesetzgebers dient und daher allein aus der Auslegungsbedürftigkeit einer Norm nicht ohne weiteres folgt, dass eine nach dem Grundsatz des Parlamentsvorbehalts notwendige gesetzgeberische Entscheidung nicht getroffen wurde. Ebenfalls setzen die Vorlagebeschlüsse sich beispielsweise nicht hinreichend mit der Frage auseinander, welche Anforderungen der Bestimmtheitsgrundsatzes an die Vorgaben für die Berechnung des Dienstbeschädigungsausgleichs stellt. So wird etwa in diesem Zusammenhang nicht erörtert, dass der Bestimmtheitsgrundsatz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht fordert, dass der Inhalt gesetzlicher Vorschriften dem Bürger grundsätzlich ohne Zuhilfenahme juristischer Fachkunde erkennbar sein muss, sondern es insoweit auf vielfältige Umstände ankommt und die Bestimmtheitsanforderungen etwa geringer sind bei Normen, die nicht oder nicht intensiv in Grundrechte eingreifen, und bei Normen, die nicht von solcher Art sind, dass es Adressaten und Betroffenen möglich sein muss, sich auf deren Inhalt bei der Wahrnehmung von Grundrechten im Detail vorausschauend einzurichten. Auch werden verschiedene offensichtlich naheliegende Auslegungsmöglichkeiten nicht erörtert.