Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Zur Prüfungskompetenz eines Landesverfassungsgerichts

Pressemitteilung Nr. 10/1998 vom 16. Februar 1998

Beschluß vom 15. Oktober 1997 - 2 BvN 1/95

Der Zweite Senat des BVerfG hat folgendes beschlossen:

Ein Landesverfassungsgericht (LVerfG) darf unter bestimmten Voraussetzungen die Anwendung bundesrechtlichen Verfahrensrechts (z.B. Zivilprozeßordnung, Strafprozeßordnung, Verwaltungsgerichtsordnung) durch Gerichte des Landes an Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten der Landesverfassung messen, wenn diese Rechte mit solchen des GG inhaltsgleich sind.

Die Entscheidung führt in denjenigen Ländern zu einer Verstärkung des Grundrechtsschutzes, in denen gegen Urteile von Landesgerichten auch die Verfassungsbeschwerde zu einem LVerfG gegeben ist, ohne daß für diese Landesverfassungsbeschwerden - anders als bei der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG - besondere Annahmevoraussetzungen vorgeschrieben sind (vgl. § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG).

I.

  1. Das Verfahren betraf im wesentlichen die Auslegung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes "Bundesrecht bricht Landesrecht" (Art. 31 GG) und des Art. 142 GG. Nach Art. 142 GG gelten die in Landesverfassungen verbürgten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte, sofern sie Rechten des GG nicht widersprechen.

    Der Sächsische Verfassungsgerichtshof (SächsVerfGH) hatte dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 3 GG folgende - in der Rechtsprechung und der Literatur seit Jahrzehnten umstrittene - Frage vorgelegt: Ist ein LVerfG nach dem GG gehindert, über eine bei ihm gegen das Urteil eines Landesgerichts eingelegte Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, mit der die Anwendung des Prozeßrechts des Bundes beanstandet wird?

  2. Dem Verfahren vor dem SächsVerfGH liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

    Ein Amtsgericht in Sachsen hatte die Beschwerdeführerin (Beklagte) in einem nicht berufungsfähigen Zivilprozeß zur Zahlung eines Geldbetrages verurteilt, obwohl die Beklagte Einwendungen gegen ihre Zahlungspflicht erhoben und unter Beweis gestellt hatte. Das Amtsgericht hatte dieses Vorbringen der Beklagten nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung (= Verfahrensrecht des Bundes) als verspätet zurückgewiesen.

    Die Beklagte sieht in der Zurückweisung des Beweisangebots einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör, das in Art. 78 Abs. 2 der Landesverfassung gleichlautend mit Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet ist. Sie erhob Verfassungsbeschwerde sowohl zum SächsVerfGH als auch zum BVerfG.

  3. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat die zum BVerfG eingelegte Verfassungsbeschwerde ohne Prüfung der Erfolgsaussicht mangels Vorliegens der Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchst. b) BVerfGG bereits am 14. Januar 1997 nicht zur Entscheidung angenommen.

    Demgegenüber hatte der SächsVerfGH die Erfolgsaussicht der bei ihm eingelegten Verfassungsbeschwerde zu prüfen, denn das sächsische Verfassungs-Verfahrensrecht kennt keine Annahmevoraussetzungen. Der SächsVerfGH ist insoweit der Auffassung, daß das Amtsgericht mit der Zurückweisung der Beweisanträge als verspätet das rechtliche Gehör verletzt habe. Der Gerichtshof möchte daher das angefochtene Urteil aufheben. Diese Entscheidung konnte er allerdings nach Art. 100 Abs. 3 GG nicht ohne vorherige Anrufung des BVerfG treffen, weil der Hessische Staatsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertritt, Art. 31 GG lasse die Überprüfung der Anwendung des bundesrechtlichen Verfahrensrechts am Maßstab der in der Landesverfassung und im GG parallel verbürgten Rechte nicht zu.

II.

  1. Der Zweite Senat hat die ihm vorgelegte Frage wie folgt beantwortet:

    Ein LVerfG darf unter bestimmten Voraussetzungen (s.u.) die Anwendung bundesrechtlichen Verfahrensrechts durch ein Landesgericht an Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten der Landesverfassung messen, wenn diese Rechte mit denen des GG inhaltsgleich sind.

    Ein Land hat weiterhin die Kompetenz, in der Landesverfassungsgerichtsbarkeit eine Verfassungsbeschwerde zum LVerfG vorzusehen, die zu einer Aufhebung der angegriffenen Entscheidung des Gerichts des Landes führen kann. Allerdings setzt dies voraus, daß die verfassungsrechtliche Beschwer eines Beschwerdeführers ausschließlich auf der Entscheidung des Gerichts des Landes - und nicht auch des Bundes - beruht. Zudem kann der Landesverfassungsgeber einem LVerfG diese Kompetenz nur dann geben, wenn die Verfahrensordnung voraussetzt, daß vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zum LVerfG der Rechtsweg bei den Fachgerichten ausgeschöpft sein muß (Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde).

    Es wird u.a. folgendes ausgeführt:

  2. Die Antwort des Zweiten Senats bezieht sich nur auf die Überprüfung der Anwendung von Verfahrensrecht des Bundes (z.B. Zivilprozeß, Strafprozeßordnung, Verwaltungsgerichtsordnung). Sie bezieht sich nicht auf die Anwendung materiellen Bundesrechts (z.B. Bürgerliches Gesetzbuch, Strafgesetzbuch).

  3. Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der die Geltung der Grundrechte und gleichgestellter Rechte durchsetzen und auch grundrechtlichen Individualrechtsschutz verwirklichen soll. Es gehört zum Wesen der Verfassungsbeschwerde, daß die für verfassungswidrig erkannten Hoheitsakte in der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde aufgehoben werden können. Dies umfaßt auch die Kassation verfassungswidriger gerichtlicher Entscheidungen. Soweit es zur Gewährleistung des Zwecks der Verfassungsbeschwerde unerläßlich ist, können die Länder - wie überwiegend geschehen - ihrem LVerfG die Befugnis einräumen, rechtskräftige Entscheidungen der Landesgerichte aufzuheben.

    Ob ggf.eine solche Aufhebung unerläßlich ist, steht allerdings erst dann fest, wenn der Rechtsweg erschöpft ist. Bis dahin kann und muß eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Rechtsweg behoben werden.

    Eine Landesverfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Gerichts eines Landes kommt nicht in Betracht, soweit diese Entscheidung durch ein Bundesgericht in der Sache ganz oder teilweise bestätigt wurde. Gleiches gilt für die Entscheidung des Gerichts eines Landes, soweit diese nach einer Zurückverweisung unter Bindung an die Maßstäbe des Bundesgerichts ergangen ist. In diesen Fällen fehlt es bereits an der Voraussetzung, daß die Beschwer des Betroffenen auf der Ausübung der Staatsgewalt des Landes beruhen muß.

  4. Für eine Prüfung der Anwendung bundesrechtlicher Verfahrensgesetze durch ein LVerG ist gem. Art. 142 und Art. 31 GG nur insoweit Raum, als die Landesverfassung und das GG inhaltsgleiche Grundrechte enthalten. Das ist dann der Fall, wenn die Grundrechte der Landesverfassungen den gleichen Gegenstand in gleichem Sinn und mit gleichem Inhalt wie das GG regeln.

    Liegt ein solcher Fall vor, hat der Richter die einschlägigen - parallel verbürgten - Grundrechte des GG und der Landesverfassung zu beachten. Ein Konflikt aus dieser gleichzeitigen Bindung kann nicht entstehen, weil die Anwendung der - inhaltsgleichen - Grundrechte im konkreten Fall zu demselben Ergebnis führen muß.

    Diese doppelte Bindung kann - wie im vorliegenden Fall - einen verstärkten Grundrechtsschutz bewirken, wenn die LVerfGe im Gegensatz zum BVerfG in jedem Fall die Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde zu prüfen haben, weil ihre entsprechende Verfahrensordnung - anders als § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG - keine besonderen Annahmevoraussetzungen vorsieht.

  5. Ein LVerfG hat danach wie folgt zu prüfen:

    • Liegt ein Anwendungsfall für ein Landesgrundrecht vor?
    • Zu welchem Ergebnis führte die Anwendung des GG? (Hierbei ist das LVerfG gem. § 31 BVerfGG an die Rechtsprechung des BVerfG gebunden und unterliegt auch der Vorlagepflicht des Art. 100 Abs. 3 GG.)
    • Führt die Prüfung des gerügten Landesverfassungsrechts zum selben Ergebnis?
    • Falls dies bejaht wird, steht die Inhaltsgleichheit des Landesgrundrechts fest, so daß dieses Prüfungsmaßstab für das LVerfG sein kann. Zugleich steht auch das Ergebnis fest: Hält die angegriffene Entscheidung Maßstäben des GG stand, genügt sie auch der inhaltsgleichen landesrechtlichen Gewährleistung. Verletzt der richterliche Hoheitsakt hingegen Grundrechte oder grundrechtsgleiche Gewährleistungen des GG, so verstößt er auch gegen entsprechende inhaltsgleiche Landesverfassungsrechte und kann vom LVerfG aufgehoben werden.
    • Falls die Frage verneint wird (Landesverfassungsrecht führt zu einem anderen Ergebnis, weil es etwa abweichend vom GG auszulegen ist), so ist die landesverfassungsrechtliche Gewährleistung nicht inhaltsgleich; an ihr kann die Anwendung bundesrechtlichen Verfahrensrechts nicht gemessen werden. Die Verfassungsbeschwerde zum LVerfG mit der Rüge der Verletzung dieser Gewährleistung ist unzulässig.

Karlsruhe, den 16. Februar 1998