Bundesverfassungsgericht

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Der Sitz eines direkt gewählten Abgeordneten des Bundestags darf nach dessen Ausscheiden nicht aus der Landesliste besetzt werden, solange die Partei in dem betreffenden Land über Überhangmandate verfügt.

Pressemitteilung Nr. 34/1998 vom 7. April 1998

Beschluss vom 26. Februar 1998
2 BvC 28/96

Der Zweite Senat des BVerfG hat in einem Verfahren über eine Wahlprüfungsbeschwerde entschieden:

Scheidet ein direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter aus dem Deutschen Bundestag (BT) aus, dessen Partei in dem betreffenden Bundesland Überhangmandate errungen hat, so darf der ausgeschiedene Wahlkreisabgeordnete nicht durch einen Listenkandidaten ersetzt werden. Die bisherige gegenteilige Praxis ist allerdings im Wege einer Übergangsregelung bis zum Ende der jetzigen 13. Wahlperiode hinzunehmen.

Es bleibt dem Gesetzgeber unbenommen, für zukünftige Bundestagswahlen eine Mandatsnachfolge auch in diesen Fällen anzuordnen. Eine verfassungskonforme Regelung könnte etwa vorsehen, Ersatzleute für direkt gewählte Abgeordnete mit der Erststimme mitwählen zu lassen. Sieht der Gesetzgeber von einer Neuregelung ab, können solche Sitze in "Überhangländern" künftig nicht wieder besetzt werden.

I.

1. Die Abgeordneten des BT werden nach dem Grundsatz einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt. Von der regulären Zahl von 656 Abgeordneten werden 328 Abgeordnete im Wege der Mehrheitswahl direkt (Erststimme) in den Wahlkreisen und die übrigen über die Landesliste (Zweitstimme) nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Grundsätzlich entscheidet das Zweitstimmenergebnis über die Zahl der Sitze einer Partei. Von dieser Zahl, die auf jede Landesliste aufgrund des Verhältnisses der Summen der Zweitstimmen entfällt, wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des betreffenden Landes errungenen Direktmandate abgerechnet. Die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt.

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate erringt, als ihr Landeslistensitze zustehen. In einem solchen Fall können nicht alle Direktmandate auf das Listenkontingent einer Partei angerechnet werden. Sie erhält in Höhe der Unterschiedszahl zusätzliche Mandate, sogenannte Überhangmandate.

2. Eine Nachfolgeregelung für ausgeschiedene Bundestagsabgeordnete enthält § 48 Bundeswahlgesetz (BWG). Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift hat (auszugsweise) folgenden Wortlaut: "Wenn ein ... Abgeordneter ... aus dem Deutschen Bundestag ausscheidet, so wird der Sitz aus der Landesliste derjenigen Partei besetzt, für die der Ausgeschiedene bei der Wahl aufgetreten ist." Seit Einführung dieses Prinzips der Listennachfolge auch für direkt gewählte Kandidaten im Jahre 1953 schieden in bisher sieben Legislaturperioden (1953, 1961, 1980, 1983, 1987, 1990 und 1994) direkt gewählte Abgeordnete von Parteien aus, zu deren Gunsten in dem jeweiligen Land Überhangmandate bestanden. Ihre Nachfolger wurden aus den jeweiligen Landeslisten berufen.

3. Bei der Wahl zum 13. Deutschen BT am 16. Oktober 1994 gewann die CDU in Baden-Württemberg 37 Wahlkreise; auch im Wahlkreis 187 errang ein CDU-Kandidat das Wahlkreismandat. Nach dem Zweitstimmenergebnis waren auf die Landesliste der baden-württembergischen CDU lediglich 35 Sitze entfallen. Die CDU erzielte in diesem Land mithin zwei Überhangmandate. Nach dem Tod des CDU-Abgeordneten des Wahlkreises 187 wurde für ihn im Februar 1996 aus der Landesliste der CDU von Baden-Württemberg ein Nachfolger berufen. Den hiergegen von einem Wahlberechtigten erhobenen Einspruch wies der BT im Juni 1996 zurück. Gegen diesen Beschluß erhob der Wahlberechtigte (Beschwerdeführer; Bf) Wahlprüfungsbeschwerde zum BVerfG.

4. Beim BT ist ein weiteres, vom Bf angestrengtes Wahlprüfungsverfahren anhängig. Auch in diesem Fall war der Sitz eines (thüringischen) Wahlkreisabgeordneten der CDU nach dessen Ausscheiden im November 1997 mit einem Listenkandidaten besetzt worden, obwohl zugunsten der CDU in dem betreffenden Land (Thüringen) drei Überhangmandate bestehen.

II.

Der Zweite Senat hat die Wahlprüfungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung heißt es u.a.: Zwar kann dem BT nicht darin gefolgt werden, daß der Einspruch des Bf unbegründet ist, weil der betreffende Abgeordnete (s. o. I 3) sein Mandat aufgrund einer zutreffenden Auslegung des § 48 Abs. 1 BWG erhalten habe (1.). Doch kann diese Auslegung des BWG noch bis zum Ende der 13. Legislaturperiode hingenommen werden, weil sie seit 1953 der ständigen Wahlrechtspraxis zugrunde liegt. Daraus folgt, daß der Erwerb der Mitgliedschaft im BT durch den ersatzweise berufenen Abgeordneten im Ergebnis gültig ist (2.).

1. Entgegen der bisherigen Rechtspraxis enthält § 48 Abs. 1 BWG keine Regelung für die Mandatsnachfolge auf frei gewordene Sitze von Wahlkreiskandidaten, deren Partei in dem betreffenden Land über Überhangmandate verfügt. Im demokratisch verfaßten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen. Durch Wahl kann ein Abgeordnetensitz nur aufgrund einer - wie auch immer ermittelten - demokratischen Mehrheit erworben werden. Ordnet das Wahlgesetz für die Nachfolge ausgeschiedener Abgeordneter - wie es das geltende Bundestagswahlrecht vorsieht - keine Ersatzwahl an, sondern läßt es Ersatzleute eintreten, so ist diese Voraussetzung nur gewahrt, wenn die Ersatzleute schon am Wahltag mitgewählt worden sind.

a) Nach § 48 Abs. 1 BWG werden die Ersatzleute auch für parteiangehörige Wahlkreisabgeordnete ausschließlich mit den für die Landesliste abgegebenen Zweitstimmen gewählt. Das Wahlverfahren ist nicht so ausgestaltet, daß der Wähler mit seiner für den Wahlkreiskandidaten einer Partei abgegebenen Erststimme zugleich alle Bewerber der Landesliste dieser Partei als Ersatzleute mitwählt. Die Landesliste wird gemäß § 4 BWG vielmehr nur mit den Zweitstimmen gewählt, während die Erststimmen den Wählern zur Wahl von Wahlkreisabgeordneten zustehen. Folgerichtig ist auch der Stimmzettel so gestaltet, daß mit der Erststimme nur ein ganz bestimmter und namentlich benannter Kandidat, nicht aber zugleich Listenkandidaten der Partei des Wahlkreisbewerbers als Ersatzleute zu wählen sind.

b) Werden die Ersatzleute für ausgeschiedene Wahlkreisabgeordnete danach nicht über die Erststimmen aus der Landesliste mitgewählt, so müssen sie wenigstens durch Wahl mit den Zweitstimmen legitimiert sein. Ersatzleute hält die Landesliste nur im Rahmen der Abgeordnetenzahl bereit, die aufgrund des Zweitstimmenergebnisses für die Landesliste ermittelt worden ist.

c) Daraus folgt: Da einer Partei beim Anfall von Überhangmandaten - diese werden nur von der Mehrheit der Erststimmen, nicht aber auch vom Zweitstimmenergebnis getragen - mehr Sitze zugeteilt werden, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, ist das Sitzkontingent der Landesliste solange erschöpft, wie die Partei des weggefallenen Direktkandidaten in dem betreffenden Land über Überhangmandate verfügt. § 48 Abs. 1 BWG ist daher in solchen Fällen nicht anwendbar. Die Besetzung solcher Sitze aus der Landesliste ist unzulässig.

2. Die dem angefochtenen Bundestagsbeschluß zugrundeliegende und der ständigen Rechtspraxis entsprechende Rechtsauffassung kann bis zum Ende der 13. Legislaturperiode hingenommen werden. Die bisherige Anwendung des § 48 Abs. 1 BWG auch auf Fälle der Mandatsnachfolge in "Überhangländern", war bislang unumstritten. Der eingeschränkte Regelungsgehalt ist bisher nicht erkannt worden. Die Folgen, die einträten, wenn der bisherigen Handhabung des § 48 Abs. 1 BWG nunmehr kurz vor dem Ablauf der 13. Legislaturperiode der Boden entzogen würde, sind im einzelnen nicht einzuschätzen. Bleibt es bis zum Ende der 13. Legislaturperiode übergangsweise bei der bisherigen Anwendung, so sind die nur noch für wenige Monate eintretenden Folgen demgegenüber absehbar und hinnehmbar. Rückwirkung könnte der Feststellung der Ungültigkeit des Erwerbs der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag gemäß § 47 Abs. 2 BWG ohnehin nicht zukommen. Die Sitze der beiden ausgeschiedenen Abgeordneten wären mithin - unabänderlich - über einen Zeitraum von dreizehn und vier Monaten mit Abgeordneten besetzt gewesen, deren Mitgliedschaft ungültig erworben worden war. Wird dieser Zustand noch bis zum Ende der Legislaturperiode aufrechterhalten, so fällt dies nicht mehr entscheidend ins Gewicht.