Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerden zum "Sachenrechtsmoratorium" teilweise erfolgreich

Pressemitteilung Nr. 87/1998 vom 30. Juli 1998

Beschluss vom 08. April 1998
1 BvR 1680/93, 1 BvR 1580/94, 1 BvR 183/94

Der Erste Senat des BVerfG hat aufgrund mehrerer Verfassungsbeschwerden zum sog. sachenrechtlichen Moratorium für Grundstücke in der DDR folgendes entschieden:

  1. Das Sachenrechtsänderungsgesetz vom 21. September 1994 ist mit Art. 14 GG (Eigentumsgarantie) unvereinbar, soweit es für die Zeit vom 22. Juli 1992 bis zum 31. Dezember 1994 auch im nachhinein einen gesetzlichen Anspruch des Grundstückseigentümers auf Nutzungsentgelt gegen den zum Besitz berechtigten Grundstücksnutzer nicht vorsieht (Art. 233 § 2a Abs. 8 S. 1 EGBGB 1994).

    Dem Gesetzgeber wird aufgegeben, die verfassungswidrige Regelung spätestens bis zum 30. Juni 2000 durch eine verfassungsgemäße zu ersetzen.

  2. Im übrigen ist das Moratorium, soweit es mit den Verfassungsbeschwerden angegriffen wurde, mit dem GG vereinbar.

I.

Zur Rechtslage

Die drei zur Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden betrafen das "sachenrechtliche Moratorium" für Grundstücke im Beitrittsgebiet. Nutzer fremder Grundstücke dürfen danach bis zur Klärung der Rechtsverhältnisse das Grundstück weiter nutzen. Ein Entgelt hatten sie hierfür bis zum 31. Dezember 1994 nur zu entrichten, wenn dies vertraglich vereinbart worden war.

Hintergrund dieses Moratoriums war die vom bundesdeutschen Recht teilweise erheblich abweichende Regelung von Eigentum und Nutzungsrechten an Grund und Boden. Um die Rechtslage zu vereinheitlichen, ging der Bundesgesetzgeber in mehreren Schritten vor:

  1. Der Einigungsvertrag ließ das selbständige, vom Grundstück getrennte Gebäudeeigentum und die in der DDR begründeten Nutzungsrechte zunächst bestehen. Da in der Folgezeit vielfach Unsicherheit und Streit um die Existenz von Nutzungsrechten aufkamen, führte der Gesetzgeber zur vorläufigen Aufrechterhaltung des status quo durch Art. 8 des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes mit Wirkung vom 22. Juli 1992 das "sachenrechtliche Moratorium" in das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch ein (EGBGB 1992). Nutzer fremder Grundstücke erhielten danach in näher beschriebenen Fällen ein gesetzliches Recht zum Besitz (Art. 233 § 2a Abs. 1 S. 1 EGBGB 1992). Ersatz für gezogene Nutzungen oder vorgenommene Verwendungen sollte nur auf einvernehmlicher Grundlage verlangt werden können. Dieses Moratorium war bis zum 31. Dezember 1994 befristet. Die Bereinigung der Rechtsverhältnisse blieb - auch hinsichtlich eines zu zahlenden Nutzungsentgelts - einer späteren gesetzlichen Regelung vorbehalten.
  2. Die endgültige Angleichung der Nutzungsverhältnisse an das Sachenrecht des BGB war Gegenstand des am 1. Oktober 1994 in Kraft getretenen Sachenrechtsbereinigungsgesetzes (SachenRBerG). Darin wird ein Ausgleich zwischen Grundstückseigentümern und den vom Gesetz erfaßten Nutzern dergestalt vorgenommen, daß Grundstücksnutzer das Recht haben sollen, zwischen der Bestellung eines Erbbaurechts an dem von ihnen bebauten Grundstück und dessen Ankauf zu wählen, und zwar regelmäßig zur Hälfte des sonst üblicherweise zu zahlenden Entgelts.
  3. Die Regelung des EGBGB wurde an dieses Konzept angepaßt (EGBGB 1994). Das Besitzrecht der Nutzer blieb zwar bestehen, jedoch sind sie dem Eigentümer gegenüber seit dem 1. Januar 1995 zur Entrichtung eines Nutzungsentgelts verpflichtet, sobald ein Verfahren zur sachenrechtlichen Bereinigung eingeleitet wird. Für die Zeit bis zum 31. Dezember 1994 ist der Nutzer dagegen zur Herausgabe von Nutzungen weiterhin nicht verpflichtet, es sei denn, daß die Beteiligten anderes verabredet haben (Art. 233 § 2a Abs. 8 S. 1 EGBGB 1994).

II.

Die Beschwerdeführer sind Eigentümer von Grundstücken im Beitrittsgebiet. Ihre Klagen auf Herausgabe der Grundstücke bzw. auf Zahlung von Nutzungsersatz wurden von Zivilgerichten abgewiesen. Die Beschwerdeführer rügten mit ihren Verfassungsbeschwerden u.a. die Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz) durch die zugrundeliegenden gesetzlichen Vorschriften.

III.

Die Verfassungsbeschwerden haben teilweise Erfolg. Der Erste Senat gab den Beschwerdeführern insoweit recht, als sich ihre Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Art. 233 § 2a Abs. 8 S. 1 EGBGB 1994 richteten. Diese Regelung ist mit Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG nicht zu vereinbaren, soweit danach ein Nutzungsersatzanspruch des Eigentümers gegen den Besitzer für die Zeit vom 22. Juli 1992 bis 31. Dezember 1994 auch im nachhinein ausgeschlossen wird (s. Ziff. 1).

Im übrigen sind die angegriffenen Vorschriften mit dem GG vereinbar (s. Ziff. 2).

Zur Begründung heißt es u.a.:

Die Rechtsstellung des Grundstückseigentümers wird durch das Sachenrechtsmoratorium insoweit eingeschränkt, als ein Recht des Nutzers zum Besitz gesetzlich fingiert wird und Ersatz gezogener Nutzungen nur auf einvernehmlicher Grundlage verlangt werden kann. Diese Beschränkungen gelten selbst für Fälle, in denen Nutzungsrechte an fremdem Boden nie entstanden, später weggefallen oder jedenfalls zweifelhaft waren.

Die Regelung des Art. 233 § 2a EGBGB 1992/1994 bestimmt damit Inhalt und Schranken des Eigentums i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG und muß den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips entsprechen.

  1. Diesen Anforderungen genügt Art. 233 § 2a Abs. 8 S. 1 EGBGB 1994 nicht. Er verstößt insoweit gegen Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, als der Grundstückseigentümer für die Zeit vom 22. Juli 1992 bis zum 31. Dezember 1994 gesetzliche Ansprüche auf Zahlung von Nutzungsentgelt auch im nachhinein nicht geltend machen kann. Das ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

    a) Die angegriffene Regelung bevorzugt einseitig die Nutzer der Grundstücke. Begünstigt werden nicht zuletzt auch diejenigen von ihnen, an deren Widerstand Absprachen über die freiwillige Zahlung eines angemessenen Nutzungsentgelts bisher gescheitert sind. Grundstückseigentümer ohne vertraglichen Anspruch werden demgegenüber einseitig belastet. Sie können für die Vergangenheit kein Entgelt für die Überlassung der Grundstücksnutzung verlangen und sind auch daran gehindert, öffentliche Lasten, die sie zu tragen haben, für die Zeit bis 1994 auf die Nutzer abzuwälzen. Ein gerechter Ausgleich, wie ihn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet, kann darin grundsätzlich nicht gesehen werden.

    b) Die Gründe, die die Regelung in Art. 233 § 2a Abs. 8 S. 1 EGBGB 1994 rechtfertigen sollen, führen nur für die Zeit vor dem 22. Juli 1992 zu einer anderen Beurteilung. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten Grundstücksnutzer im allgemeinen davon ausgehen, daß die bisherigen Bedingungen der Grundstücksnutzung zunächst unverändert bleiben würden. Insoweit läßt es sich deshalb verfassungsrechtlich rechtfertigen, ihr Vertrauen für die Übergangszeit höher zu bewerten als das Interesse des Eigentümers am Erhalt eines Nutzungsentgelts. Für die Zeit nach Inkrafttreten des Art. 233 § 2a EGBGB 1992 (= 22. Juli 1992) gilt dies nicht mehr, da die Nutzer im Hinblick auf Art. 233 § 2a Abs. 8 EGBGB 1992 nicht mehr davon ausgehen konnten, daß die gezogenen Nutzungen unentgeltlich blieben.

    c) Der Senat führt aus, daß es auch ansonsten keine Gründe gibt, die es rechtfertigen, den Ausschluß der Nutzungsentgeltansprüche auf die Zeit vom 22. Juli 1992 bis zum 31. Dezember 1994 zu erstrecken.

    d) In welcher Höhe der Grundstückseigentümer Nutzungsentschädigung für die Zeit nach dem 21. Juli 1992 soll verlangen können, bleibt dem Gesetzgeber vorbehalten. Für eine entsprechende Regelung erscheint ein Zeitraum bis zum 30. Juni 2000 angemessen.

  2. Die Moratoriumslösung von 1992, soweit sie Gegenstand des Verfahrens war, ist hingegen mit dem GG vereinbar.

    Ziel dieser Regelung war es, aus der DDR-Zeit überkommene, rechtlich oder auch nur tatsächlich entstandene Nutzungsverhältnisse vorläufig bis zu einer endgültigen Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Grundstückseigentümer und Nutzer zu sichern und Rechtsfrieden zu garantieren. Insbesondere sollten Nutzer in ihrem Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit ihrer Investitionen in das Grundstück geschützt und die Schaffung vollendeter Tatsachen verhindert werden. Diese Zielsetzung rechtfertigt die Beschränkungen der Befugnisse der Grundstückseigentümer. Diese wurden durch die Wiedervereinigung vielfach überhaupt erst in die Lage versetzt, Ansprüche in bezug auf die Grundstücke durchzusetzen. Der Gesetzgeber durfte deshalb das Interesse der Grundstückseigentümer für eine Übergangszeit hinter den Belangen der Grundstücksnutzer zurückstellen. Dabei sind die mit dem "Sachenrechtsmoratorium" verfolgten Gemeinwohlziele von solchem Gewicht, daß sie auch die rückwirkende Inkraftsetzung des Moratoriums rechtfertigen.

    Die Regelung von 1992 ist auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie einen Anspruch auf Ersatz von Nutzungen bis Ende 1994 nur auf einvernehmlicher Grundlage vorsieht. Dies führt zwar dazu, daß der Grundstückseigentümer öffentliche Lasten nicht auf den Nutzer abwälzen kann, sondern u.U. einen wirtschaftlichen Verlust hinnehmen muß. Angesichts der damaligen Unsicherheiten hinsichtlich der Höhe einer etwaigen Nutzungsentschädigung und der Art und Weise der Sachenrechtsbereinigung selbst ist es jedoch nachvollziehbar, daß der Gesetzgeber diese Frage zunächst offenließ und einer späteren Regelung vorbehielt. Aus den Gesetzesmaterialien wird auch deutlich, daß es für Nutzungen grundsätzlich ein Entgelt geben sollte. Dem Gesetzgeber sollte es danach unbenommen bleiben, Nutzungsentgelt auch noch nachträglich einzuführen. Der Verzicht auf die gesetzliche Festlegung eines Anspruchs auf Nutzungsentgelt für die Zeit bis zum 31. Dezember 1994 war somit aus der Sicht des Jahres 1992 nicht endgültig. Dem Grundstückseigentümer war es auch zuzumuten, Ansprüche für die Zeit bis Ende 1994 bis zu einer derartigen Regelung zurückzustellen.