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Zur Verfassungsmäßigkeit der Inkompatibilitätsregelung (Unvereinbarkeit von Amt und Mandat) im Berliner Landeswahlgesetz

Pressemitteilung Nr. 107/1998 vom 1. Oktober 1998

Beschluss vom 05. Juni 1998
2 BvL 2/97

Der Zweite Senat des BVerfG hat auf eine gerichtliche Vorlage entschieden, daß § 26 Abs. 1 Nr. 6 des Berliner Landeswahlgesetzes (LWahlG; Wortlaut siehe Anlage) mit dem GG vereinbar ist. Die Vorschrift regelt, daß Mitglieder des zur Geschäftsführung berufenen Organs eines privatrechtlichen Unternehmens, an dem das Land Berlin mit mehr als 50% beteiligt ist, mit dem Erwerb der Mitgliedschaft im Abgeordnetenhaus aus ihrer beruflichen Funktion ausscheiden.

I.

Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 22. Oktober 1995 wurde u.a. ein CDU-Kandidat gewählt, der Vorstandsmitglied der "GEHAG Gemeinnützige Heimstätten-Aktiengesellschaft" (GEHAG) ist. Die Aktien dieser Gesellschaft werden zu rund 75% vom Land Berlin gehalten. Dieses hat allerdings nur für vier der insgesamt neun Aufsichtsratsmitglieder ein Vorschlagsrecht.

Mit seiner zum Landgericht (LG) erhobenen Klage beantragte der Gewählte die Feststellung, daß seine Stellung bei der GEHAG fortbestehe. § 26 Abs. 1 Nr. 6 LWahlG sei verfassungswidrig. Das Land Berlin habe bei der GEHAG keine beherrschende Stellung; die Gefahr eines Interessenkonflikts bestehe nicht.

Die zuständige Kammer für Handelssachen hat durch ihren Vorsitzenden das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 26 Abs. 1 Nr. 6 LWahlG mit dem GG vereinbar sei. Das LG ist der Auffassung, daß die Norm u.a. gegen Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG (Freiheit und Gleichheit der Wahl) verstoße. Außerdem sei die Norm kompetenzwidrig. Sie greife in das Aktienrecht ein, das zur konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis des Bundes gehöre.

II.

Der Zweite Senat hat entschieden, daß die zur Prüfung vorgelegte Norm mit dem GG vereinbar ist. Der Landesgesetzgeber hatte insoweit die Regelungskompetenz (1.). Die Norm widerspricht nicht dem Bundesrecht (2.) und ist materiell verfassungsgemäß (3.).

Zur Begründung heißt es u.a.:

  1. a) Der Senat führt zunächst aus, daß die vorgelegte Norm folgenden Regelungsgehalt hat: Aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte, dem Regelungszusammenhang mit den Vorschriften des Landesabgeordnetengesetzes sowie aus dem Sinn und Zweck von Inkompatibilitätsregelungen ergibt sich, daß § 26 LWahlG mit dem Erwerb der Abgeordnetenstellung die Rechtsfolge der Unvereinbarkeit unmittelbar eintreten läßt. Er sieht nicht vor, daß der Gewählte die Beendigung seiner beruflichen Tätigkeit erst herbeiführen muß. Die Anordnung, daß der Betroffene aus seiner "beruflichen Funktion ausscheidet", bedeutet nicht, daß sein Anstellungsverhältnis endgültig beendet wird. Die Rechte und Pflichten aus diesem Rechtsverhältnis ruhen vielmehr nur. Nach dem Ende seines Mandats hat er gegen seinen Arbeitgeber einen Anspruch auf Wiederverwendung.

    b) Zwar berührt dieser Regelungsgehalt des § 26 Abs. 1 Nr. 6 LWahlG in einem Randbereich auch das Aktien- und Gesellschaftsrecht sowie das Bürgerliche Recht. Darin liegt indes kein Übergriff in die - konkurrierende - Gesetzgebungskompetenz des Bundes. § 26 Abs. 1 Nr. 6 LWahlG ist lediglich eine unselbständige Teilregelung des zur Kompetenz des Landesgesetzgebers gehörenden Landeswahl- und Landesabgeordnetenrechts. Sie enthält eine Ausgestaltung des passiven Wahlrechts und hat keinen darüber hinausgehenden eigenständigen Regelungsgehalt. Die Norm läßt bei Annahme des Mandats gesellschaftsrechtliche und privatrechtliche Rechtswirkungen unmittelbar eintreten, um so die Frage der Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung des Parlaments möglichst schnell außer Streit zu stellen. Die Regelung zum Wiederverwendungsanspruch stellt sich als eine Folgeregelung zur Vermeidung faktischer Unwählbarkeit dar.

  2. Auch Art. 31 GG ("Vorrang des Bundesrechtes") steht der Geltung des § 26 Abs. 1 Nr. 6 LWahlG nicht entgegen.

    Art. 31 GG ist eine Kollisionsnorm, die bestimmt, welches Recht gilt, wenn kompetenzgemäßes und auch sonst verfassungsgemäßes Bundes- und Landesrecht je denselben Sachverhalt regeln.

    Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Das Bundesrecht macht keine Aussagen zu dem rechtlichen Schicksal der Organstellung und des Anstellungsverhältnisses eines in ein Landesparlament gewählten Vorstandsmitglieds eines privatrechtlichen Unternehmens. Mögen das Aktien- und das Gesellschaftsrecht sowie das Bürgerliche Recht auch bundesrechtlich umfassend geregelt sein, so enthalten diese Rechtsgebiete gleichwohl weder positive noch negative Regelungen des von § 26 Abs. 1 Nr. 6 LWahlG erfaßten Sachverhalts.

  3. § 26 Abs. 1 Nr. 6 LWahlG verletzt auch nicht das gleiche passive Wahlrecht.

    a) Der Grundsatz der gleichen Wahl ist in den Ländern durch Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistet. Er gilt gleichermaßen für das aktive und das passive Wahlrecht. Er schließt es aus, einem Gewählten die Annahme und Ausübung des Mandats zu verwehren, soweit nicht aus der Verfassungsordnung hierfür eine ausreichende Ermächtigung entnommen werden kann. Als Ermächtigung für derartige Beschränkungen kommt allein Art. 137 Abs. 1 GG (Wortlaut siehe Anlage) in Betracht. Diese Vorschrift soll verhindern, daß durch "Personalunion" die Parlamentarier als Kontrolleure sich selbst kontrollieren. So soll der Gefahr von Entscheidungskonflikten und Verfilzungen entgegengewirkt werden.

    Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG erscheint die Sicherung der Integrität von Parlament und vollziehender Gewalt auch dann gefährdet, wenn die öffentliche Hand ein - regelmäßig nicht unbedeutendes - Wirtschaftsunternehmen beherrscht und dessen zur Geschäftsführung berufene Angestellte zugleich ein Parlamentsmandat innehaben. Auch hinsichtlich der Betätigung der öffentlichen Hand in privatrechtlichen Unternehmen ist die Regierung gegenüber dem Parlament zur Rechnungslegung verpflichtet und hat sich der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit und Ordnungsgemäßheit der Haushalts- und Wirtschaftsprüfung zu unterziehen.

    Die Anordnung der Inkompatibilität darf aus verfassungsrechtlicher Sicht jedoch nur die gewählten Bewerber betreffen, deren berufliche Stellung die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit von Interessen- und Entscheidungskonflikten nahelegt. Hinsichtlich der Frage, ob solche Interessenkollisionen vorliegen, ist dem Gesetzgeber ein Einschätzungsraum zuzugestehen. Insbesondere kann er die Ermächtigung des Art. 137 Abs. 1 GG durch generalisierende Tatbestände ausschöpfen, die an die Wahrscheinlichkeit einer Konfliktlage anknüpfen.

    b) Nach diesen Maßstäben hält sich § 26 Abs. 1 Nr. 6 LWahlG im Rahmen der Ermächtigung des Art. 137 Abs. 1 GG und verletzt nicht das gleiche passive Wahlrecht.

    Er beläßt dem Gewählten die Möglichkeit, sich zwischen der Fortführung seiner beruflichen Tätigkeit und der Annahme des Mandats zu entscheiden. Der Betroffene hat nach dem Landesabgeordnetengesetz nicht nur einen Anspruch auf Rückkehr in seine berufliche Tätigkeit, sondern darüber hinaus auch finanzielle Ansprüche (Übergangsgeld, monatliche Entschädigungen, ggf. Altersentschädigung); außerdem ist eine Erwerbstätigkeit neben dem Mandat nicht ausgeschlossen. Aufgrund dieser Bestimmungen ist der Gewählte jedenfalls faktisch nicht vom Zugang zum Mandat ausgeschlossen.

    Entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts rechtfertigt Art. 137 Abs. 1 GG nicht nur eine Inkompatibilität zwischen Mandat und Tätigkeit in einem Unternehmen, in denen der Staat als Mehrheitsaktionär auch über die Mehrheit im Aufsichtsrat verfügt. Die Rechtfertigung gilt vielmehr auch, wenn eine Vorschrift - wie § 26 Abs. 1 Nr. 6 LWahlG - allein an die Tatsache der Mehrheitsbeteiligung anknüpft. Dies steht in Übereinstimmung mit dem Aktiengesetz, wonach von einem in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen vermutet wird, daß es von dem Mehrheitsaktionär abhängig ist. Im übrigen bestehen die nach Art. 137 Abs. 1 GG relevanten Interessenkollisionen bei einer maßgeblichen Beteiligung der öffentlichen Hand an einem privatrechtlichen Unternehmen auch unabhängig von der rechtlichen Möglichkeit des Landes, über eine Mehrheit im Aufsichtsrat auf das Unternehmen Einfluß zu nehmen. Die Mitglieder des Vertretungsorgans eines privatrechtlichen Unternehmens, an dem der Staat mehrheitlich beteiligt ist, unterliegen hinsichtlich ihrer Unternehmensführung besonderer Beobachtung der öffentlichen Hand, denn diese hat dem Volk gegenüber auch eine Mehrheitsbeteiligung an einem privatrechtlichen Unternehmen zu verantworten.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 107/98 vom 1. Oktober 1998

§ 26 Abs. 1 Berliner Landeswahlgesetz

(1) Mit dem Erwerb der Mitgliedschaft im Abgeordnetenhaus scheiden folgende Personen aus ihrer beruflichen Funktion aus

  1. Unmittelbare Landesbeamte und -beamtinnen mit Dienstbezügen in der Hauptverwaltung und Angestellte des Landes Berlin in der Hauptverwaltung,:
  2. Beamte, Beamtinnen und Angestellte beim Abgeordnetenhaus, des Rechnungshofs und der Gerichtsverwaltungen,
  3. Berufsrichter und Berufsrichterinnen, die im Dienst des Landes Berlin stehen,
  4. der Berliner Datenschutzbeauftragte, Beamte, Beamtinnen und Angestellte des Berliner Datenschutzbeauftragten
  5. Mitglieder eines (Stadt-)Bezirksamtes,
  6. Mitglieder des zur Geschäftsführung berufenen Organs einer der Aufsicht des Landes Berlin unterstehenden Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts oder eines privatrechtlichen Unternehmens, an dem das Land Berlin oder eine seiner Aufsicht unterstehende Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts mit mehr als 50 vom Hundert beteiligt ist, und ihre ständigen Stellvertreter.

Art. 137 Abs. 1 GG (Wählbarkeit von Beamten)

(1) Die Wählbarkeit von Beamten, Angestellten des öffentlichen Dienstes, Berufssoldaten, freiwilligen Soldaten auf Zeit und Richtern im Bund, in den Ländern und den Gemeinden kann gesetzlich beschränkt werden.

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