Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Verletzungen der Grundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl können bei Wahlen in den Ländern nicht mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gerügt werden. Die Länder sind im Rahmen ihrer Verfassungsautonomie für einen subjektiv-rechtlichen Schutz des Wahlrechts zu den Volksvertretungen in ihrem jeweiligen Verfassungsraum allein zuständig

Pressemitteilung Nr. 109/1998 vom 6. Oktober 1998

Beschluss vom 16. Juli 1998
2 BvR 1953/95

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat einstimmig die bisherige Rechtsprechung aufgegeben, wonach Verletzungen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl bei Wahlen in den Ländern zu Volksvertretungen (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG) mit der Verfassungsbeschwerde als Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) gerügt werden konnten. Er hat deshalb eine Verfassungsbeschwerde, die der Beschwerdeführer unmittelbar gegen eine Vorschrift des Bayerischen Kommunalwahlrechts eingelegt hatte, zurückgewiesen.

I.

Der Beschwerdeführer ist Mitglied des bayerischen Landesvorstands der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) und war von dieser Partei als Kandidat für die Kommunalwahlen in C. am 10. März 1996 nominiert worden. Allerdings gelang es der ÖDP nicht, die nach Art. 25 des bayerischen Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes (GLKrWG - Wortlaut in der Anlage abgedruckt) erforderliche Zahl von Unterstützungsunterschriften beizubringen, so daß sich der Beschwerdeführer nicht zur Wahl stellen konnte.

Bereits vor der Wahl hatte der Beschwerdeführer unmittelbar gegen Art. 25 GLKrWG Verfassungsbeschwerde eingelegt, im einzelnen die Verletzung der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl gerügt und sich hierzu auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als verfassungsbeschwerdefähiges Recht berufen. Dieser sei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch bei Kommunalwahlen anwendbar.

II.

Der Zweite Senat hat die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, weil dem Beschwerdeführer ein mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht rügefähiges Recht nicht zur Seite steht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG); er hat damit die angegriffene Vorschrift nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft.

Zur Begründung heißt es u.a.:

  1. Der Bürger kann bei Wahlen zu den Volksvertretungen in den Ländern keinen der fünf Wahlrechtsgrundsätze mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einfordern. Entgegen der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist im Anwendungsbereich der speziellen wahlrechtlichen Gleichheitssätze der Art. 28 Abs. 1 S. 2 und 38 Abs. 1 S. 1 GG ein Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ausgeschlossen.

    a) Das Recht, die Beachtung aller fünf Wahlrechtsgrundsätze im Wege der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einzufordern, ist dem Bürger vom Grundgesetz nur gewährt worden, soweit es um politische Wahlen auf Bundesebene geht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a i.V.m. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG). Das Grundgesetz verlangt aber, daß die Länder den Grundsätzen der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl bei der Regelung des Wahlrechts zu ihren Länderparlamenten und auf kommunaler Ebene objektiv-rechtlich genügen.

    b) Die Rechtslage zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht für die drei Grundsätze der unmittelbaren, freien und geheimen Wahl stets als selbstverständlich angesehen. Für die beiden anderen Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl kann nichts anderes gelten. Daher kann im Anwendungsbereich der Art. 28 Abs. 1 S. 2 und 38 Abs. 1 S. 1 GG auch nicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden.

    Es erklärt sich aus dem bundesstaatlichen Prinzip, daß das Grundgesetz den Bürgern das Recht, die Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze mit der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einzufordern, nur gewährt, soweit es um politische Wahlen auf Bundesebene geht. In den Grenzen föderativer Bindungen gewährleistet das Grundgesetz Bund und Ländern eigenständige Verfassungsbereiche. Die Länder genießen im Rahmen ihrer Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG im staatsorganisatorischen Bereich Autonomie. In diesem Rahmen regeln sie Wahlsystem und Wahlrecht zu ihren Parlamenten und den kommunalen Vertretungen des Volkes; sie gestalten und organisieren das Wahlprüfungsverfahren. Dabei bindet Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG die Länder auch an die fünf Wahlrechtsgrundsätze. Insoweit ermöglicht das Grundgesetz auch eine Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht: Im Wege der Normenkontrollklage gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG können die Bundesregierung, jede Landesregierung oder ein Quorum des Bundestages die Verletzung der Bindung des Landes an die Wahlrechtsgrundsätze beim Bundesverfassungsgericht geltend machen. Ebenso hat jeder Richter das in einem Rechtsstreit erhebliche Landeswahlrecht auf seine Übereinstimmung mit den fünf Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG zu überprüfen und das Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, wenn er der Auffassung ist, es entspreche diesen Grundsätzen nicht.

    Mit Blick auf die Autonomie der Länder beschränkt sich das Grundgesetz allerdings auf diese objektiv-rechtliche Kontrolle und räumt nicht auch jedem Bürger bei Wahlen im Land das Recht ein, die Beachtung der fünf Wahlrechtsgrundsätze mit der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einzufordern. Insoweit gibt das Grundgesetz den Ländern Raum, den subjektiven Schutz des Wahlrechts zu ihren Volksvertretungen in Ausübung ihres Rechts auf Selbstorganisation auszugestalten und durch die Gerichtsbarkeit des Landes zu gewährleisten.

  2. a) Die Änderung der Rechtsprechung führt zu einer Einschränkung des bisher über die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG zugelassenen Rechtswegs zum Bundesverfassungsgericht. Dies findet seine Rechtfertigung aber in der dargelegten Anerkennung der Autonomie der Länder.

    b) Die Länder gewährleisten den Schutz des subjektiven Wahlrechts in ihrem Verfassungsraum. Alle Länder sehen die Prüfung der Wahl zu ihren Parlamenten vor. Im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens kann - je nach landesrechtlicher Ausgestaltung - spätestens in zweiter Instanz eine gerichtliche Rechtskontrolle erreicht werden. Bei Kommunalwahlen haben die Länder die gerichtliche Kontrolle der Wahlprüfung den Verwaltungsgerichten übertragen.

Zusätzlich eröffnen die meisten Länder wegen der Verletzung des subjektiven Wahlrechts bei Wahlen zu ihren Volksvertretungen eine Verfassungsbeschwerde, Grundrechts- oder Popularklage zu ihren Landesverfassungsgerichten. Dabei werden zukünftig auch die Landesverfassungsgerichte derjenigen Länder eine Verfassungsbeschwerde als zulässig anzusehen haben, die - wie etwa das Saarland - die Möglichkeit zur Anrufung des Landesverfassungsgerichts davon abhängig machen, daß eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nicht zulässig ist. Ein subjektiver verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz wegen Verletzung des Rechts auf Gleichheit der Wahl zu den Volksvertretungen in den Ländern und Kommunen entfällt lediglich in den Ländern Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, die eine Verfassungsbeschwerde oder einen ihr vergleichbaren Rechtsbehelf nicht kennen, sowie - mangels eigener Verfassungsgerichtsbarkeit - in Schleswig-Holstein. Der Bedeutung des subjektiven Wahlrechts mag es entsprechen, insoweit verfassungsgerichtlichen subjektiven Rechtsschutz im Land einzuführen. Von Verfassungs wegen ist dies allerdings nicht geboten. Art. 19 Abs. 4 GG verbürgt keinen subjektiven verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 109/98 vom 6. Oktober 1998

Art. 25 des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes vom 10. August 1994 (BayGVBl S. 747) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes vom 26. Juli 1995 (BayGVBl S. 371) lautet auszugsweise:

(1) Wahlvorschläge von Parteien und Wählergruppen, die im letzten Gemeinderat oder Kreistag nicht aufgrund eines eigenen Wahlvorschlags ununterbrochen bis zum 90. Tag vor dem Wahltag vertreten waren (neue Wahlvorschlagsträger), müssen über die nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 erforderlichen Unterschriften hinaus von Wahlberechtigten unterstützt werden. Die Wahlberechtigten haben sich dazu persönlich in eine Liste (Unterstützungsliste) einzutragen, die vom Wahlleiter bei Gemeindewahlen bei der Gemeindeverwaltung, bei Landkreiswahlen beim Landratsamt aufgelegt werden; ...

(2) Die Zahl der Wahlberechtigten, die den Vorschlag zusätzlich unterstützen müssen, beträgt

  1. bei Gemeinderatswahlen

    a) in Gemeinden bis zu
    1.000 Einwohnern 40
    2.000 Einwohnern 50
    3.000 Einwohnern 60
    5.000 Einwohnern 80
    10.000 Einwohnern 120
    20.000 Einwohnern 180
    30.000 Einwohnern 190
    50.000 Einwohnern 215
    100.000 Einwohnern 340
    150.000 Einwohnern 385

    b) in den Städten
    Augsburg 470
    Nürnberg 610
    München 1.000;

  2. bei Kreistagswahlen
    a) in den Landkreisen bis zu
    100.000 Einwohnern 340
    150.000 Einwohnern 385
    200.000 Einwohnern 430;

    b) in Landkreisen mit mehr als
    200.000 Einwohnern 470.

(3) Für gemeinsame Wahlvorschläge von neuen Wahlvorschlagsträgern mit Parteien und Wählergruppen, die bereits im letzten Gemeinderat oder Kreistag aufgrund eines eigenen Wahlvorschlags vertreten waren (alte Wahlvorschlagsträger), bedarf es keiner zusätzlichen Unterstützungsunterschriften nach den Absätzen 1 und 2. Das gleiche gilt für die Wahlvorschläge solcher neuen Wahlvorschlagsträger, die bei der letzten Landtagswahl oder bei der letzten Europawahl mindestens 5 v.H. der im Land insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen oder bei der letzten Bundestagswahl mindestens 5 v.H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben.