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Entscheidung zum Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG); Ungleichbehandlung bei Zweitausbildung ist mit dem GG unvereinbar

Pressemitteilung Nr. 140/1998 vom 22. Dezember 1998

Beschluss vom 10. November 1998
1 BvL 50/92

Nach einem Beschluß des Ersten Senats des BVerfG ist es verfassungswidrig, auf den Bedarf von Auszubildenden, die bereits eine Ausbildung berufsqualifizierend abgeschlossen haben, Einkommen und Vermögen der Eltern anzurechnen, sie aber von der Ausbildungsförderung auszuschließen, wenn die Eltern den angerechneten Unterhaltsbetrag nicht leisten. § 11 Abs. 3 S. 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) verstößt in Verbindung mit § 36 Abs. 1 S. 2 BAföG (jetzt: § 36 Abs. a S. 3 BAföG) gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG).

Von dieser Entscheidung unberührt bleiben allerdings die auf Grundlage der verfassungswidrigen Vorschriften ergangenen bestandskräftigen Förderungsbescheide.

I.

Rechtslage:

Das BAföG enthält Regelungen über die finanziellen Leistungen, die der Staat einem Auszubildenden gewährt, um dessen Unterhaltsbedarf zu sichern. Bei der Ermittlung der Höhe der Förderung werden im Regelfall Einkommen und Vermögen der Eltern angerechnet (§§ 1, 11 Abs. 1 BAföG). Angerechnet wird nach § 11 Abs. 2 BAföG in Verbindung mit §§ 21ff. BAföG der elterliche Einkommensbetrag, der bei pauschaler Betrachtung für Unterhaltsleistungen an den Förderungsempfänger zur Verfügung steht. Ob tatsächlich ein Unterhaltsanspruch besteht, wird im Rahmen des § 11 Abs. 2 BAföG nicht geprüft.

Neben diese Art der Bedarfsermittlung tritt als weitere Form die Ausbildungsförderung ohne Anrechnung des elterlichen Einkommens und Vermögens, das sogenannte "elternunabhängige BAföG". Das Gesetz eröffnet über § 11 Abs. 3 BAföG und § 36 BAföG zwei Wege zur elternunabhängigen Förderung: § 11 Abs. 3 BAföG gewährt die Ausbildungsförderung unabhängig vom Elterneinkommmen in Fällen, von denen der Gesetzgeber annimmt, es bestehe typischerweise kein Unterhaltsanspruch mehr gegenüber den Eltern, etwa wenn der oder die Auszubildende älter ist als 30 Jahre. § 36 BAföG führt in den Fällen zu einer elternunabhängigen Förderung, wenn der Antragsteller glaubhaft machen kann, daß gegenüber seinen Eltern kein Unterhaltsanspruch besteht, obwohl nach § 11 Abs. 2 BAföG ein solcher bei der Berechnung des Förderungsbedarfs angerechnet wird, und ohne staatliche Hilfe die Ausbildung gefährdet wäre (sog. Vorausleistungsverfahren).

Nicht auf § 36 BAföG berufen kann sich seit einer Gesetzesänderung im Jahr 1990 ein Auszubildender, der eine zweite Ausbildung absolviert. Außen vor bleibt also etwa ein Student, der nach dem Abitur zunächst eine Lehre absolviert hat und dann erst ein Studium aufnimmt. In solchen Fällen gibt es auch keine elternunabhängige Förderung über § 11 Abs. 3 BAföG.

II.

Sachverhalt:

Seinen Ausgangspunkt nahm das Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG beim Verwaltungsgericht Hannover (VG). Dort begehrte ein Student Ausbildungsförderung ohne Berücksichtigung des Einkommens und Vermögens seiner Eltern. Das VG setzte gemäß Art. 100 Abs. 1 GG das Verfahren aus und legte dem BVerfG die Frage vor, ob § 11 Abs. 3 S. 3 BAföG mit Art. 3 Abs. 1 (Gleichheitssatz), 12 Abs. 1 (Berufsfreiheit) und 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) vereinbar sei.

Der Kläger hatte folgende Ausbildung hinter sich: Die Hauptschule verließ er mit dem Realschulabschluß. Anschließend erwarb er den erweiterten Sekundarabschluß I durch den einjährigen Besuch einer Berufsfachschule. Daran schloß er eine Lehre zum Vermessungstechniker an und erwarb schließlich die allgemeine Hochschulreife. Während dieser Zeit erhielt er elternunabhängige Ausbildungsförderung. Schließlich nahm er ein Studium an der Universität auf.

Auf seinen Antrag hin gewährte das Studentenwerk dem Kläger des Ausgangsverfahrens Ausbildungsförderung, allerdings nur unter Berücksichtigung eines anrechenbaren Einkommens seiner Mutter. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch mit dem Ziel ein, elternunabhängige Ausbildungsförderung zu erhalten. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Daraufhin erhob er die Klage zum VG und führte aus, seine Mutter sei zur Leistung von Ausbildungsunterhalt weder verpflichtet noch bereit.

III.

Nach dem Beschluß des Ersten Senats des BVerfG verstößt § 11 Abs. 3 S. 3 BAföG in Verbindung mit § 36 Abs. 1 S. 2 BAföG gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG).

In der Begründung heißt es u.a.:

1. Art. 3 Abs. 1 GG ist jedenfalls deshalb durch § 11 Abs. 3 S. 3 BAföG in Verbindung mit § 36 Abs. 1 S. 2 BAföG 1990 verletzt, weil innerhalb der Gruppe der Auszubildenden, deren Förderung sich unter dem Gesichtspunkt der Elternabhängigkeit einheitlich nach § 11 Abs. 2 BAföG bestimmt, diejenigen, die bereits eine Ausbildung berufsqualifizierend abgeschlossen haben, vom Vorausleistungsverfahren nach § 36 Abs. 1 S. 1 BAföG ohne hinreichenden sachlichen Grund ausgeschlossen werden. Der Gesetzgeber kann sich zur Begründung des § 36 Abs. 1 S. 2 BAföG 1990 nicht darauf berufen, durch diese Vorschrift werde sichergestellt, daß die angestrebte engere Anbindung der Ausbildungsförderung in den Fällen der sog. Zweitausbildung an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Eltern nicht unterlaufen werde. Es liegt zwar grundsätzlich im Ermessen des Gesetzgebers, ob und unter welchen Bedingungen er Fördermittel zugunsten von Auszubildenden einsetzt, die bereits einen berufsqualifizierenden Abschluß haben. Entscheidet er sich aber für deren Förderung dem Grunde nach (vgl. § 7 Abs. 2 BAföG) und gestaltet er diese Förderung elternabhängig aus, so rechtfertigt es die vom Gesetzgeber gegebene Begründung im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG nicht, Auszubildende mit berufsqualifizierendem Abschluß, deren Eltern den angerechneten Unterhalt nicht leisten, im Ergebnis von der öffentlichen Förderung ganz auszuschließen.

2. Die Feststellung des Gleichheitsverstoßes gilt auch für solche Auszubildenden mit berufsqualifizierendem Abschluß, deren Eltern nach bürgerlichem Recht zur Finanzierung der konkreten Zweitausbildung verpflichtet sind, diese aber nicht leisten. Die Verweisung dieser Auszubildenden auf eine - gegebenenfalls gerichtliche - Durchsetzung ihres Anspruchs auf Ausbildungsunterhalt kann nicht damit begründet werden, es handele sich hier um Personen, die typischerweise lebenserfahrener als "normale" Auszubildende seien und denen deshalb die Durchsetzung des Unterhalts auch unter Berücksichtigung einer größer gewordenen Distanz zum Elternhaus zugemutet werden könne. Denn die Zweitausbildung ist keineswegs regelmäßig Spätausbildung. Der für diese Gruppe typische Ausbildungsweg führt vom Abitur über die Lehre zum Studium.

3. a) Die auf der Grundlage der verfassungswidrigen Vorschriften ergangenen und im Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung bereits bestandskräftigen Bescheide bleiben unberührt. Es ist dem Gesetzgeber jedoch unbenommen, im Zusammenhang mit dem Gegenstand der vorliegenden Entscheidung eine andere Regelung zu treffen. Er kann die erforderliche Neuregelung auch auf bereits bestandskräftige Bescheide erstrecken; von Verfassungs wegen verpflichtet ist er hierzu nicht.

b) Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung dürfen § 36 Abs. 1 S. 2 BAföG 1990 und § 36 Abs. 1 S. 3 BAföG 1996 mit Rücksicht auf die soziale Situation der von diesen Vorschriften betroffenen Auszubildenden nicht angewendet werden. Es erscheint angemessen, in diese Anordnung auch solche Auszubildenden einzubeziehen, über deren Antrag auf Gewährung einer Förderleistung nach § 36 Abs. 1 S. 1 BAföG noch nicht bestandsoder rechtskräftig entschieden ist.

Bis zur gesetzlichen Neuregelung sind Gerichtsverfahren auszusetzen, deren Gegenstand Förderungsentscheidungen auf der Grundlage des § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 und S. 3 BAföG 1990 sind, um den Klägern die Möglichkeit offenzuhalten, aus der Neuregelung möglicherweise Nutzen zu ziehen.