Bundesverfassungsgericht

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Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatzversorgungssystemen der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung des wiedervereinigten Deutschland aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. Juli 1998 - hier: Absenkung des rentenwirksamen Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens im Falle der Zugehörigkeit zu "staats- und systemnahen" Versorgungssystemen und der Ausübung "systemnaher" Funktionen

Pressemitteilung Nr. 49/1999 vom 28. April 1999

Urteil vom 28. April 1999
1 BvL 22/95

Dem Verfahren lagen Vorlagen des Bundessozialgerichts (1 BvL 34/95) und des Sozialgerichts Gotha (1 BvL 22/95) zugrunde.

Der Erste Senat hat entschieden, daß die Vorschriften

§ 6 Abs. 2 des Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen (AAÜG; Zugehörigkeit zu "staats- und systemnahen" Versorgungssystemen)

und

§ 6 Abs. 3 Nr. 7 AAÜG ("systemnahe" Funktion; hier: Richter oder Staatsanwalt), jeweils in der Fassung des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes,

seit dem 1. Juli 1993 (Erlaß des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes vom 24. Juni 1993) bis zum 31. Dezember 1996 (Inkrafttreten einer neuen Regelung) wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) mit dem GG unvereinbar waren.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 30. Juni 2001 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.

Bereits bestandskräftige, also nicht mehr anfechtbare Bescheide bleiben von diesem Urteil unberührt. Es ist dem Gesetzgeber aber unbenommen, eine andere Regelung zu treffen. Er kann die erforderliche Neuregelung auch auf bereits bestandskräftige Bescheide erstrecken; von Verfassungs wegen verpflichtet ist er hierzu jedoch nicht.

Hinsichtlich der Rechtslage und der Sachverhalte wird auf die Pressemitteilung Nr. 83/98 vom 16. Juli 1998 Bezug genommen.

Zur Urteilsbegründung:

I.

§ 6 Abs. 2 AAÜG verletzte vom 1. Juli 1993 bis zum 31. Dezember 1996 Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 GG.

  1. Art. 3 Abs. 1 GG

    Die Norm führt insbesondere zu einer Benachteiligung von Personengruppen, zu denen auch die Kläger der Ausgangsverfahren gehören, gegenüber Rentnern aus der DDR, deren tatsächlich erzielte Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen bei der Rentenberechnung nur durch die Beitragsbemessungsgrenze gekappt werden. Bessergestellt sind auch alle Rentner, die nur in der Sozialpflichtversicherung und in der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung der DDR versichert waren.

    Für diese Ungleichbehandlung fehlt es an einem rechtfertigenden Grund. Das vom Gesetzgeber mit der Begrenzungsregelung verfolgte Ziel ist zwar einsichtig und legitim (a). Die angegriffene Regelung verfehlt jedoch das angestrebte Ziel, indem sie unzulässig typisiert (b).

    a) Auf der Grundlage des Einigungsvertrages (EV) verfolgt § 6 Abs. 2 AAÜG das Ziel, überhöhte Leistungen für Personen, die mit ihren Tätigkeiten einen erheblichen Beitrag zur Stärkung oder Aufrechterhaltung des politischen Systems der DDR geleistet haben, nicht in vollem Umfang in die Rentenversicherung zu übernehmen. Das gesetzgeberische Anliegen, durch den Abbau überhöhter Leistungen die Angleichung des Niveaus gleichartiger Sozialleistungen zu erreichen, ist legitim und war auch schon vor der Wiedervereinigung anerkannt. Bereits im Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 war vorgesehen, die Ansprüche und Anwartschaften, die in vielen Fällen nicht allein auf Arbeit und Leistung beruhten, sondern Prämien für Systemtreue waren, zu begrenzen. Hieran hat der Gesetzgeber mit den Vorschriften im EV und im AAÜG angeknüpft.

    b) Die angegriffene Regelung verfehlt jedoch das angestrebte Ziel. Der Gesetzgeber hat in einer unzulässig typisierenden Weise unterstellt, daß die Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen der von der Regelung erfaßten Personen durchweg überhöht waren.

    Es gibt keine hinreichenden Erkenntnisse dafür, daß die Angehörigen der in § 6 Abs. 2 AAÜG genannten Versorgungssysteme insgesamt oder auch nur überwiegend Entgelte erhalten haben, die selbst unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze noch als überhöht angesehen werden können. Allein aus der "Staats- und Systemnähe" der Berufstätigkeit kann dies jedenfalls nicht geschlossen werden. Denn wie in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargelegt worden ist, können Einkommensvorteile der Angehörigen des Staatsapparates gegenüber dem produzierenden Bereich anhand einer Arbeitsbewertung nicht festgestellt werden; die Einkommen von Mitarbeitern des Staatsapparates wichen nicht signifikant vom volkswirtschaftlichen Durchschnitt ab.

    Der Senat führt aus, daß es weiterhin nicht sachlich vertretbar war, bei der Herabsetzung des berücksichtigungsfähigen Einkommens pauschal auf die Höhe des in der DDR gezahlten Arbeitsentgelts abzustellen.

    Das gilt zum einen für den Abstufungsmechanismus, das Einkommen, sofern es zwischen 140% und 160% des Durchschnittseinkommens lag, auf 140% zu begrenzen. Denn es gibt keine tatsächlichen Erkenntnisse darüber, wie die Verteilung überhöhter Arbeitsverdienste im Bereich zwischen 100% (Durchschnittsentgelt) und 140% des Durchschnittsentgelts wirklich war.

    Das gilt weiterhin, soweit das AAÜG es zuläßt, Einkommen über 160% des Durchschnittseinkommens progressiv bis auf 100% abzusenken. Auch für diese Regelung fehlt es an dem erforderlichen tatsächlichen Anhalt für eine progressiv ansteigende Verteilung politisch motivierter überhöhter Entgelte.

    Hohe in der DDR erzielte Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen sind nicht notwendig auch "überhöhte" Entgelte, deren rentenrechtliche Anerkennung der Gesetzgeber ohne weitere Nachprüfung versagen durfte.

  2. Art. 14 GG

    § 6 Abs. 2 AAÜG verletzt auch das Eigentumsgrundrecht.

    Zwar darf der Gesetzgeber Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen von Angehörigen bestimmter Versorgungssysteme bei der Berechnung der Rente unberücksichtigt lassen, wenn sie nicht auf Arbeit und Leistung beruhten und deshalb überhöht waren. Die Regelung verstieß aber gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Sie war nicht geeignet, diesen Gemeinwohlzweck zu verwirklichen. Bei der Ausgestaltung des § 6 Abs. 2 AAÜG hat der Gesetzgeber an Merkmale angeknüpft, die allein nicht als Indikatoren für ein überhöhtes Entgelt ausreichen. Insofern ist nicht hinreichend sichergestellt, daß die Kürzung nur solche Personen betraf, denen tatsächlich überhöhte Entgelte bezahlt worden waren.

II.

Auch § 6 Abs. 3 Nr. 7 AAÜG verletzte im Zeitraum vom 1. Juli 1993 bis zum 31. Dezember 1996 Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 14 GG.

  1. Art. 3 Abs. 1 GG

    Die Vorschrift führt zur Benachteiligung von Personen, zu denen auch der Kläger im Verfahren 1 BvL 22/95 (ehemaliger Richter) gehört. Zum einen wird er gegenüber solchen Personen schlechter gestellt, die in der DDR ebenfalls eine herausgehobene Funktion innegehabt haben, aber in § 6 Abs. 3 AAÜG nicht genannt, von der Begrenzung also nicht erfaßt sind.

    Dasselbe gilt gegenüber Rentnern, die zu DDR-Zeiten in der Sozialpflichtversicherung und in der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung versichert waren.

    Für diese Benachteiligung bestand kein hinreichender sachlicher Grund.

    Es gab keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, daß generell die in § 6 Abs. 3 AAÜG genannten Personen tatsächlich "überhöhte" Arbeitsverdienste erhalten hatten. Auch aus den Gesetzesmaterialien wird nicht deutlich, weshalb für die in § 6 Abs. 3 AAÜG aufgezählten Leitungsfunktionen im Vergleich zu anderen ebenfalls leitenden Positionen in der DDR "überhöhte" Entgelte gezahlt worden sein sollen.

  2. Art. 14 GG

    § 6 Abs. 3 Nr. 7 AAÜG verletzte auch das Eigentumsgrundrecht. Mit dieser Begrenzungsregelung hat der Gesetzgeber in eigentumsgeschützte Rechtspositionen des Personenkreises, zu dem der Kläger des Ausgangsverfahrens 1 BvL 22/95 gehört, verfassungswidrig eingegriffen, weil sie zur Erreichung ihres Zwecks ungeeignet war (vgl. oben S. 3).

III.

Die §§ 6 Abs. 2 und 6 Abs. 3 Nr. 7 AAÜG können allerdings bis zum 30. Juni 1993 (Monat vor Erlaß des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes) verfassungsrechtlich noch hingenommen werden. Bis dahin durfte sich der Gesetzgeber mit groben Typisierungen und Generalisierungen begnügen. Denn bei der erstmaligen gesetzlichen Regelung der "Rentenüberleitung" gab es noch keine hinreichenden Erkenntnisse und Erfahrungen über die individuellen Versicherungsläufe in Zusatz- und Sonderversorgungssystemen. Der Gesetzgeber war aber zu Recht darauf bedacht, so schnell wie möglich Überleitungsregelungen zu erlassen und ihren Vollzug sicherzustellen.

Seit dem 1. Juli 1993 (Inkrafttreten des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes) genügten die Regelungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen jedoch nicht mehr.

Da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Verfassungswidrigkeit der Regelungen zu beseitigen, sind diese nicht für nichtig, sondern lediglich für mit dem GG unvereinbar erklärt worden.

IV.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 30. Juni 2001 eine verfassungsgemäße Regelung zu erlassen. Diese Verpflichtung erstreckt sich auf den gesamten von der Unvereinbarerklärung betroffenen Zeitraum zwischen dem 1. Juli 1993 und dem 31. Dezember 1996.

Die §§ 6 Abs. 2 und 6 Abs. 3 Nr. 7 AAÜG dürfen im Umfang dieses Urteils des Ersten Senats von Gerichten und Behörden bis zum Erlaß verfassungsgemäßer Normen nicht mehr angewendet werden.