Bundesverfassungsgericht

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"Hennenhaltungsverordung" ist nichtig

Pressemitteilung Nr. 72/1999 vom 6. Juli 1999

Urteil vom 06. Juli 1999
2 BvF 3/90

Der Zweite Senat des BVerfG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 13. April 1999 entschieden, daß die Verordnung zum Schutz von Legehennen bei Käfighaltung (Hennenhaltungsverordnung; HHVO) vom 10. Dezember 1987 nichtig ist.

1. Die Verordnung ist jedenfalls in zwei Regelungsbereichen nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 2a Abs. 1 i.V.m. § 2 Nr. 1 Tierschutzgesetz (TierSchG) gedeckt. Das gilt für

- § 2 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 HHVO (Käfigbodenfläche von 450 qcm pro Henne)

sowie für

- § 2 Abs. 1 Nr. 7 S. 1, 1. Halbsatz (Länge des Futtertrogs für jede Henne von 10 cm).

Beide Vorschriften tragen dem ethisch begründeten Tierschutz, wie ihn das TierSchG aufgibt, nicht ausreichend Rechnung. Damit ist § 2 Abs. 1 und Abs. 2 HHVO, der die Anforderungen an Käfige regelt, insgesamt nichtig.

2. Die HHVO ist im übrigen wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG insgesamt verfassungswidrig und nichtig.

Denn die Verordnung beruht nicht nur auf dem als Ermächtigungsgrundlage erwähnten TierSchG, sondern auch auf dem Gesetz von 25. Januar 1978 zum Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen (ETÜ; Wortlaut ist in der Anlage auszugsweise beigefügt) in Verbindung mit der Empfehlung des Ständigen Ausschusses vom 21. November 1986 für das Halten von Legehennen der Art Gallus Gallus (im folgenden: Empfehlung des Ständigen Ausschusses).

Eine Verordnung, die auf mehreren Ermächtigungsgrundlagen beruht, muß diese vollständig zitieren.

Eine Mißachtung des Zitiergebots des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG führt zur Nichtigkeit der Verordnung.

Wegen des Sachverhalts und des Wortlauts der einzelnen Vorschriften wird auf die Pressemitteilung Nr. 34/99 vom 22. März 1999 Bezug genommen.

Im einzelnen:

I. TierSchG als Ermächtigungsgrundlage

§ 2 Abs. 1 und 2 HHVO sind von der Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckt.

  1. Der Senat führt aus, daß gegen die Verordnungsermächtigung des § 2a TierSchG keine rechtlichen Bedenken bestehen. Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung sind in dieser Vorschrift hinreichend bestimmt. Eine weitergehende Verpflichtung zur Normierung der Intensivhaltung von Legehennen durch den Gesetzgeber besteht nicht.
  2. a) Der Verordnungsgeber ist gemäß § 2a TierSchG bei der ihm übertragenen Konkretisierung der Anforderungen an die Haltung von Tieren an § 2 TierSchG gebunden. § 2 Nr. 1 TierSchG verpflichtet dazu, ein Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen zu ernähren, zu pflegen und verhaltensgerecht unterzubringen. § 2 Nr. 2 TierSchG erlaubt eine Einschränkung der Möglichkeit zu artgemäßer Bewegung, solange dem Tier keine Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden; seine Grundbedürfnisse, wie Schlafen sowie Nahrungsund Flüssigkeitsaufnahme, einzuschränken, gestattet diese Vorschrift nicht. Generell gilt, daß niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf (§ 1 S. 2 TierSchG). Hieraus sowie aus dem in § 1 S. 1 TierSchG niedergelegten Grundsatz des ethisch begründeten Tierschutzes folgt, daß nicht jede Erwägung der Wirtschaftlichkeit der Tierhaltung aus sich heraus ein "vernünftiger Grund" im Sinne des § 1 S. 2 TierSchG sein kann. Hiernach ist dem Verordnungsgeber ein Ausgleich zwischen den rechtlich geschützten Interessen der Tierhalter und den Belangen des Tierschutzes aufgetragen.

    b) Diesen Vorgaben entsprechen § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 2 Abs. 1 Nr. 7 S. 1, 1. Halbsatz HHVO nicht. Mit beiden Bestimmungen werden Belange des ethisch begründeten Tierschutzes über die Grenze eines angemessenen Ausgleichs zurückgedrängt.

    aa) Schon ein Vergleich der durchschnittlichen Körpermaße einer ausgewachsenen Legehenne (47,6 x 14,5 x 38 cm) mit der vorgesehenen Käfigbodenfläche von 450 qcm zeigt, daß in mit vier, fünf oder auch sechs Hennen besetzten Käfigen, wie sie in Deutschland derzeit üblich sind, ein ungestörtes gleichzeitiges Ruhen der Hennen, d.h. eine Befriedigung ihres Schlafbedürfnisses, nicht möglich ist. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, daß es etwa dem artgemäßen Ruhebedürfnis einer Henne entsprechen könnte, gemeinsam mit anderen Artgenossinnen auf- oder übereinander zu schlafen.

    Dasselbe gilt für die vorgesehene Futtertroglänge von 10 cm pro Henne. Bei einer Körperbreite von 14,5 cm können die Hennen nicht ihrem bei Käfighaltung artgemäßen Bedürfnis entsprechend gleichzeitig fressen.

    Schon diese Kontrolle anhand numerischer Größen zeigt, daß die genannten Vorschriften der HHVO der gesetzlichen Ermächtigung nicht entsprechen. Es kann deshalb offenbleiben, ob die Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit den Hennen Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden im Sinne des § 2 Nr. 2 TierSchG zufügt. Dasselbe gilt für die Frage, ob weitere artgemäße Bedürfnisse wie etwa Scharren und Picken, geschützte Eiablage oder "Sandbaden" ebenfalls unangemessen zurückgedrängt werden.

    bb) Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die verbindlichen Vorgaben aus dem europäischen Tierschutzrecht (Empfehlung des Ständigen Ausschusses) und durch die der Mitteilung der Europäischen Kommission vom 11. März 1998 über den Schutz von Legehennen zugrundeliegenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Das Gericht mußte deshalb zum Meinungsstreit der Verhaltenswissenschaftler, Veterinärmediziner und Agrarfachleute über Mindestanforderungen an eine Käfighaltung von Legehennen nicht Stellung nehmen.

    So ist nach der Empfehlung das ungestörte Einnehmenkönnen der Ruhelage Mindestvoraussetzung für eine weitere Gestattung der Batteriekäfighaltung. Außerdem müssen nach dieser Empfehlung sämtliche Tiere gleichzeitig fressen können.

    Nach der Mitteilung der Europäischen Kommission, die sich auf die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Veteränerausschusses vom 30. Oktober 1996 bezieht, wird ein Käfig mit einem Platzangebot von 450 qcm je Tier den Bedürfnissen von Legehennen nicht gerecht; weiter heißt es dort, "daß der Batteriekäfig wegen seiner kleinen Größe und seines sterilen Umfelds das Wohlbefinden der Hennen erheblich beeinträchtigt".

II. Zitiergebot

Die HHVO ist im übrigen wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG insgesamt verfassungswidrig und nichtig.

  1. Im verfassungsrechtlichen System der Gewaltenteilung dient das Zitiergebot dem Zweck, die Delegation von Rechtssetzungskompetenz auf die Exekutive in ihren gesetzlichen Grundlagen verständlich und kontrollierbar zu machen. Das Gebot soll nicht nur die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage kenntlich und damit auffindbar machen, sondern auch die Feststellung ermöglichen, ob der Verordnungsgeber beim Erlaß der Regelungen von seiner gesetzlichen Ermächtigung überhaupt Gebrauch machen wollte.

    Außerdem soll Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG dem Adressaten die Kontrolle ermöglichen, ob die Verordnung mit dem ermächtigenden Gesetz übereinstimmt.

    Hiervon ausgehend muß eine Verordnung, die auf mehreren Ermächtigungsgrundlagen beruht, diese vollständig zitieren und bei inhaltlicher Überschneidung mehrerer Ermächtigungsgrundlagen diese gemeinsam angeben.

  2. Diesen Anforderungen wird die HHVO nicht gerecht. Sie ist deshalb nichtig.

    Die HHVO nennt als Ermächtigungsgrundlage lediglich § 2a Abs. 1 i.V.m. § 16b Abs. 1 S. 2 TierSchG. Nicht erwähnt wird dagegen das Gesetz vom 25. Januar 1978 (s.o. Satz 2) in Verbindung mit der Empfehlung des Ständigen Ausschusses. Dies hätte jedoch geschehen müssen, da sich aus der Begründung zum Verordnungsentwurf zweifelsfrei ergibt, daß der Verordnungsgeber auch die wichtigsten Elemente der genannten Empfehlung umsetzen wollte.

    Der Verordnungsgeber ist nicht frei, von mehreren Ermächtigungsgrundlagen, auf denen die Verordnung beruht, nur eine zu benennen. Ohne Angabe der weiteren Grundlagen weist er seine Rechtssetzungsbefugnis nicht vollständig nach. Er verhindert oder erschwert damit auch die Kontrolle, ob die Grenzen seiner Rechtssetzungsmacht gewahrt sind.

III. Folgen der Entscheidung (vgl. § 79 Abs. 2 BVerfGG)

  1. Neue Käfiganlagen sind nicht mehr nach der HHVO genehmigungsfähig. Bis zum Erlaß einer neuen Verordnung richten sich die Genehmigungsanforderungen unmittelbar nach dem TierSchG und der Empfehlung des Ständigen Ausschusses vom 28. November 1995.
  2. Vorhandene Käfiganlagen, die auf unanfechtbar gewordenen Genehmigungen beruhen, bleiben in ihrem Bestand geschützt. Dies gilt allerdings nur insoweit, als nicht besondere Vorschriften den Bestandsschutz eingrenzen.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 72/99 vom 6. Juli 1999

Europäisches Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen

Art. 9

(1) Dem Ständigen Ausschuß obliegen die Ausarbeitung und Annahme von Empfehlungen an die Vertragsparteien, die ins einzelne gehende Bestimmungen für die Anwendung der in Kapitel I niedergelegten Grundsätze enthalten; diese Bestimmungen müssen sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse über die einzelnen Tierarten stützen.

(2) Zwecks Erfüllung seiner in Absatz 1 genannten Aufgaben verfolgt der Ständige Ausschuß die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung und neuer Tierhaltungsverfahren

(3) Jede Empfehlung wird als solche sechs Monate nach ihrer Annahme durch den Ständigen Ausschuß wirksam, sofern dieser nicht eine längere Frist festsetzt. Nach dem Wirksamwerden einer Empfehlung muß jede Vertragspartei sie entweder anwenden oder dem Ständigen Ausschuß durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation mitteilen, aus welchen Gründen sie nicht oder nicht mehr in der Lage ist, die Empfehlung anzuwenden.

(4) ...

Gesetz zu dem Europäisches Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen (Zustimmungsgesetz)

Artikel 2

Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wird ermächtigt, Empfehlungen des Ständigen Ausschusses nach Artikel 9 Abs. 1 des Übereinkommens über die Anwendung der in Kapitel I des Übereinkommens niedergelegten Grundsätze durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates innerstaatlich durchzusetzen.