Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Versagung der strafrechtlichen Rehabilitierung

Pressemitteilung Nr. 135/1999 vom 7. Dezember 1999

Urteil vom 07. Dezember 1999
2 BvR 1533/94

Der Zweite Senat des BVerfG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10. November 1999 entschieden:

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines 1974 vom DDR-Militär-gericht wegen Fahnenflucht verurteilten Beschwerdeführers (Bf) ist begründet. Die Vb richtete sich gegen einen Beschluß des Oberlandesgerichts (OLG) Rostock, mit dem der Antrag des Bf auf Rehabilitierung abgelehnt worden war. Diese Ablehnung verletzt den Bf in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Anspruch auf wirksame gerichtliche Kontrolle). Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.

I.

1. Rechtslage

Nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) sind strafrechtliche Entscheidungen eines DDR-Gerichts für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben (Rehabili-tierung), soweit sie mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sind. Dies gilt insbesondere für Verurteilungen, die der politischen Verfolgung gedient haben. In einem Katalog sind die Vorschriften aufgeführt, bei denen in der Regel davon auszugehen ist, daß auf ihnen beruhende Verurteilungen rechtsstaatswidrig waren (z.B. staatsfeindliche Hetze, ungesetzlicher Grenzübertritt, Wehrdienstentzug und Wehrdienstverweigerung). Der Tatbestand der Fahnenflucht ist in diesen Katalog nicht aufgenommen. Rehabilitierung wegen einer solchen Verurteilung kann also nur erlangt werden, wenn im Einzelfall Umstände für eine politische Verfolgung nachgewiesen werden. Ob die Voraussetzungen für eine Rehabilitierung vorliegen, hat das jeweilige Gericht von Amts wegen festzustellen. Art und Umfang der hierfür erforderlichen Ermittlungen, insbesondere etwaige Beweiserhebungen, hat es nach pflichtgemäßen Ermessen zu bestimmen. Rechtsfolgen einer Rehabilitierung sind u.a. die Tilgung der Verurteilung im Bundeszentralregister, die Erstattung der Kosten des früheren Verfahrens sowie - in bestimmten Fällen - die Zahlung einer Entschädigung.

2. Zum konkreten Fall

Der Bf war vom Militärgericht Rostock am 17. Oktober 1974 wegen Fahnenflucht zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden, die er vollständig verbüßt hat. Seinen Antrag auf strafrechtliche Rehabilitierung wies das Landgericht Rostock im Februar 1994 zurück. Eine Beschwerde zum OLG Rostock blieb erfolglos. Gegen die Entscheidung des OLG erhob der Bf Vb. Zur Begründung trug er u.a. vor, er habe sich aus politischer Motivation aufgrund seiner Ablehnung gegenüber den Verhältnissen in der DDR dem Wehrdienst entzogen. Die politische Zielsetzung seiner Verurteilung ergebe sich deutlich aus den Entscheidungsgründen, die an seine "negative Einstellung" anknüpften und diese auf den Empfang von Westfernsehen zurückführten.

II.

Die Vb ist begründet. Die Entscheidung des OLG verletzt den Bf in seinem Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Eine solche Kontrolle hat das Gericht nicht geleistet.

1. Der Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle ist verletzt, wenn die Gerichte die prozeßrechtlichen Möglichkeiten zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegen, daß ihnen eine sachliche Prüfung der vorgelegten Fragen nicht möglich ist und deshalb das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel nicht erreicht werden kann. Für ein Rehabilitierungsgericht, das Urteile auf ihre Vereinbarkeit mit wesentlichen rechtsstaatlichen Grundsätzen hin zu überprüfen und insoweit den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln hat, bedeutet dies: Es darf seinen Prüfungsauftrag nicht dadurch verengen, daß es die Feststellungen des zu prüfenden Urteils schlicht übernimmt, obwohl der Vortrag politischer Verfolgung Anlaß zur Prüfung gegeben hätte. Dies hat das OLG Rostock jedoch getan, weil es meinte, an die Feststellungen des Urteils des Militärgerichts von 1974 gebunden zu sein. Das OLG hat die Prüfung unterlassen, ob im Hinblick auf das Vorbringen des Bf, er habe sich aus Widerspruch gegen die herrschenden politischen Verhältnisse dem Wehrdienst entzogen und sei mit politischer Zielsetzung verurteilt worden, Anlaß zu weiterer Sachaufklärung bestand. Auch den Einwand des Bf, das Militärgericht habe eine grob überhöhte Strafe ausgesprochen, weil es aus politischen Gründen seiner verminderten strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht Rechnung getragen habe, hat das OLG allein unter Hinweis auf die Feststellung der vollen strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch das Militärgericht übergangen. Darüber hinaus hat es nicht geprüft, ob Anlaß zu weiteren Ermittlungen bestand, etwa durch eine Vernehmung des Verurteilten oder von Zeugen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das OLG bei der gebotenen Beachtung des Amtsermittlungsgrundsatzes weitere Ermittlungen durchgeführt und dem Antrag des Bf entsprochen hätte. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, daß bereits die schriftlichen Urteilsgründe des Militärgerichts, die dem Bf seine "hart-näckige" Weigerung, den Wehrdienst abzuleisten, und den Empfang westlichen Fernsehens angelastet hatten, ihn in die Nähe eines nach dem Regelkatalog zu rehabilitierenden Wehrdienstverweigerers rückten. Die Sache war deshalb zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückzuverweisen.

2. Soweit es in dem Verfahren auch um die Vereinbarkeit der einschlägigen Vorschrift des StrRehaG mit dem GG ging, führt der Zweite Senat aus, daß insoweit keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Die Differenzierung zwischen Wehrdienstverweigerung (poli-tische Verfolgung wird in der Regel vermutet) und Fahnenflucht (Rehabilitierung kann nur im Einzelfall beim Nachweis entsprechender Umstände erlangt werden) verletzt nicht den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Differenzierung liegt die tatsächliche Einschätzung des Gesetzgebers zugrunde, daß Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung in der Regel der politischen Verfolgung gedient haben. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Einschätzung beruht auf einer Bewertung historischer Vorgänge, die sich nicht exakt messen oder nach Zahlen feststellen lassen. Daher steht dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungsraum zu, zumal die Gerichte in begründeten Einzelfällen die Möglichkeit haben, von der generellen Einschätzung des Gesetzgebers abzuweichen. Die Grenzen seines Beurteilungsraums hat der Gesetzgeber eingehalten.