Bundesverfassungsgericht

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Zur Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz

Pressemitteilung Nr. 109/2000 vom 15. August 2000

Beschluss vom 20. Juli 2000
1 BvR 352/00

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat einem Beschwerdeführer (Bf) Recht gegeben, über dessen Begehren auf Schadensersatz 26 Jahre nach Klagerhebung und 16 Jahre nach Erlass eines stattgebenden Grundurteils noch nicht entschieden worden ist. Das BVerfG hat ausgeführt, dass die Klärung des strittigen Rechtsverhältnisses nicht in angemessener Zeit erfolgt sei.

1. Der Bf stand Anfang der siebziger Jahre mit der Stadt Saarbrücken in Verhandlungen über den Bau eines Einkaufszentrums. Zum Vertragsabschluss und zur Erteilung einer Baugenehmigung kam es jedoch nicht, da die Stadt die Verhandlungen schließlich abbrach. Im August 1974 erhob der Bf Schadensersatzklage gegen die Stadt, weil sie die Verhandlungen aus sachfremden Gründen abgebrochen habe.

Nachdem die Klage vor dem Landgericht (LG) und dem Oberlandesgericht (OLG) ohne Erfolg geblieben war, verwies der Bundesgerichtshof (BGH) 1980 das Verfahren auf die Revision des Bf an das OLG zurück. Dort unterlag der Bf erneut. Dieses Urteil hob der BGH 1983 auf und verwies die Sache wiederum an das OLG. Im Juli 1984 stellte das OLG mit Grundurteil die Schadensersatzpflicht der beklagten Stadt fest. Diese Entscheidung ist rechtskräftig seit 1985. Im Juli 1986 erging ein Schlussurteil zur Schadenshöhe, mit dem dem Bf Schadensersatz in Höhe von rund 5 Millionen DM zugesprochen wurde. Auch diese Entscheidung hob der BGH auf die beiderseitige Revision im Juni 1989 teilweise auf und verwies das Verfahren erneut an das OLG. Dieses erhob in der Folgezeit umfänglich Beweis, u.a. zur Schadenshöhe. Es holte mehrere Sachverständigengutachten ein; die Begutachtung ist noch nicht abgeschlossen. Ende 1999 wechselte die Besetzung des zuständigen Senates. Ein Urteil ist bisher nicht ergangen.

2. Auf die Verfassungsbeschwerde (Vb) des Bf, mit der dieser die überlange Verfahrensdauer rügt, hat die 1. Kammer des Ersten Senats festgestellt:

Die Rechte des Bf aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) werden dadurch verletzt, dass das Saarländische OLG es unterlassen hat, in dem Verfahren ... in angemessener Zeit eine Entscheidung über die Höhe des dem Bf zustehenden Schadensersatzanspruchs zu treffen.

Zur Begründung heißt es u.a. sinngemäß:

Aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip folgt die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten.

Zwar lässt sich nicht generell festlegen, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser Frage sind vielmehr stets alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Parteien zuzurechnende Verhalten sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussenden Tätigkeiten von Dritten, wie etwa Sachverständigen, zu berücksichtigen. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz verdichtet sich jedenfalls die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen. Im Fall des Bf sind seit der Klageerhebung 26 Jahre und nach der letzten Zurückverweisung durch den BGH elf Jahre vergangen, in denen keine Entscheidung über die Höhe des dem Bf zustehenden Anspruchs gefallen ist. Damit sind die Grenzen des unter dem Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes noch Hinnehmbaren eindeutig überschritten. Zwar weist dieser Rechtsstreit beträchtliche rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten auf. Auch lässt sich aus den Verfahrensakten nicht entnehmen, dass das Verfahren durch eine schlichte Nichtbearbeitung verzögert worden wäre. Besondere Vorkehrungen des Gerichts zur Verfahrensbeschleunigung sind jedoch ebenfalls nicht festzustellen. Die Pflicht zur nachhaltigen Beschleunigung wurde vorliegend noch dadurch verstärkt, dass es bei dem Rechtsstreit um die wirtschaftliche Existenz des Bf geht. Angesichts der außergewöhnlich langen Verfahrensdauer hätte sich das OLG nicht darauf beschränken dürfen, das Verfahren wie einen gewöhnlichen, wenn auch komplizierten Rechtsstreit zu behandeln. Vielmehr hätte es sämtliche ihm zur Verfügung stehende Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung nutzen müssen. Gegebenenfalls wäre es gehalten gewesen, sich um gerichtsinterne Entlastungsmaßnahmen zu bemühen.

Es ist nicht Aufgabe des BVerfG, den Gerichten bestimmte Beschleunigungsmaßnahmen vorzuschreiben. Die Entscheidung darüber obliegt den Fachgerichten und lässt sich nicht abstrakt, sondern nur anhand des konkreten Falles und unter Berücksichtigung der Gründe für die lange Verfahrensdauer treffen. Auch wenn das Gericht bei der Entscheidungsfindung auf die Mitwirkung von Sachverständigen angewiesen ist, erscheinen Beschleunigungsmaßnahmen möglich, wie die Kammer weiter ausführt.

Dass neben Maßnahmen der Verfahrensleitung und gegebenenfalls des Bemühens um gerichtsinterne Entlastung auch eine andere rechtliche Bewertung der zu entscheidenden Rechtsfragen zu einer Verfahrensverkürzung hätte führen können, kann den Vorwurf einer überlangen Verfahrensdauer allerdings nicht rechtfertigen. Wie der Fall rechtlich zu bewerten ist und mit welchen Beweismitteln der Sachverhalt festgestellt werden soll, obliegt der Beurteilung der Fachgerichte. Eine inhaltliche Überprüfung kommt grundsätzlich nur in dem der Verfahrensordnung entsprechenden Rechtsmittelverfahren in Frage.

Karlsruhe, den 15. August 2000