Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Verurteilung wegen Volksverhetzung

Pressemitteilung Nr. 135/2000 vom 19. Oktober 2000

Beschluss vom 06. September 2000
1 BvR 1056/95

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat ein Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts aufgehoben, durch das der Beschwerdeführer (Bf) wegen Volksverhetzung verurteilt worden war.

1. Der Bf, ein Journalist, hatte anlässlich der bevorstehenden Referentenwahl in Regensburg folgenden Text auf der Titelseite eines Anzeigenblattes verfasst:

"Referenten-Entscheidung vor heißer Phase

Kultur: Ein Jude? Recht: Rosenmeier! Umwelt: Schörnig?

Sieben Kandidaten und ein Comeback - S. 2"

Das Bayerische Oberste Landesgericht sah hierin einen Angriff auf die Menschenwürde des für das Kulturreferat vorgesehenen Bewerbers. Ihm werde schon allein aufgrund seiner Eigenschaft als Jude die Fähigkeit abgesprochen, das Amt des Kulturreferenten zu bekleiden. Wer einen anderen von vornherein von der Wahrnehmung öffentlicher Ämter ausschließen wolle, hindere ihn in einem wichtigen Bereich seiner Persönlichkeitsentfaltung und stempele ihn unter Missachtung des Gleichheitssatzes zu einem unterwertigen Glied der Gemeinschaft.

2. Die 1. Kammer des Ersten Senats hat die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts aufgehoben, weil sie die Anforderungen zur rechtlichen Bewertung von Meinungsäußerungen, die unterschiedlicher Deutung zugänglich sind, nicht hinreichend beachtet. Zur Begründung führt die Kammer u.a. aus:

Es kommt maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere den Zusammenhang an, ob die Bezeichnung eines anderen als Jude informatorisch oder diskriminierend zu verstehen ist. Die in der Zeit des Nationalsozialismus erfolgte menschenverachtende Art der Stigmatisierung von Juden als Juden und damit implizit verbundene Aufforderung an andere, sie zu diskriminieren und zu schikanieren, gebieten auch heute eine besondere Sensibilität im Umgang mit der Bezeichnung eines anderen als Juden. Das ist auch bei der Deutung einer Äußerung im Rahmen einer strafrechtlichen Beurteilung zu berücksichtigen.

Im konkreten Fall stand die Äußerung im Zusammenhang mit der anstehenden Referentenwahl. Für die Besetzung des Kulturressorts konnte die Verbundenheit mit der jüdischen Kultur, die der Bewerber bei seiner Vorstellung selbst durch die Mitteilung, er sei Jude, dargestellt hat, einen Sachbezug haben. Die Strafgerichte hätten deshalb darlegen müssen, warum die Bezeichnung des Bewerbers als Jude in diesem Fall diffamatorisch zu verstehen war und worin der Angriff gegen die Menschenwürde lag. Das haben sie nicht getan.

Die Kammer führt weiter aus, dass für die Auslegung einer mehrdeutigen Überschrift in der Regel auch der dazugehörige Zeitungsbericht einzubeziehen ist. In dem Artikel hat der Bf neutral und unter Nennung positiver Eigenschaften über den Bewerber berichtet.

Zwar mag die Überschrift auf der Titelseite missverständlich im Sinne einer Diskriminierung von Juden gewesen sein. Der Bf hat sich später öffentlich entschuldigt und sein Verhalten als verantwortungslos bedauert. Unsensibles und verantwortungsloses Verhalten allein reicht aber im Licht verfassungsrechtlicher Vorgaben für eine strafrechtliche Verurteilung wegen Volksverhetzung nicht aus.

Karlsruhe, den 19. Oktober 2000