Bundesverfassungsgericht

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Informationen zur mündlichen Verhandlung in dem Verfahren "LER"

Pressemitteilung Nr. 62/2001 vom 11. Juni 2001

Der Verfahrenskomplex "LER", der am 26. Juni 2001 vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wird, betrifft die Stellung des Religionsunterrichtes und die Einführung des Schulfachs Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) in Brandenburg. Dem Bundesverfassungsgericht liegen ein Normenkontrollantrag der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages und vier Verfassungsbeschwerden von zahlreichen katholischen und evangelischen Eltern und Schülern, von drei Bistümern und von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg vor.

Alle wenden sich gegen § 9 Abs. 2 und 3, § 11 Abs. 2 bis 4 und § 141 des Brandenburgischen Schulgesetzes. Die angegriffenen Paragrafen sind im Anhang abgedruckt. Durch diese Normen ist das Fach "LER" an den Schulen Brandenburgs eingeführt worden. Schüler können jedoch auf Antrag vom Unterricht im Fach "LER" befreit werden, "wenn ein wichtiger Grund dies rechtfertigt." Hinsichtlich des Religionsunterrichtes räumt § 9 Brandenburgisches Schulgesetz den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht ein, Schülerinnen und Schüler in den Räumen der Schule nach ihrem Bekenntnis zu unterrichten. Damit ist Religionsunterricht an den Schulen zwar möglich, er ist jedoch nicht ordentliches Lehrfach im Sinne des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG.

1. Zum historischen Hintergrund

In der Weimarer Republik war der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach an den Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen. Während des Nationalsozialismus sind die einschlägigen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung zwar nicht aufgehoben worden. Im Zuge der Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens wurden sie jedoch bald praktisch bedeutungslos.

Nach dem 2. Weltkrieg regelte das Grundgesetz in Art. 7 Abs. 3 Satz 1: "Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach."

Nach Art. 141 GG findet Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG allerdings keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand. Art. 141 GG, der unter dem Namen "Bremer Klausel" bekannt wurde, bezieht sich vor allem auf das Bundesland Bremen, in dem es traditionsgemäß eine besondere Form des biblischen Unterrichtes in den allgemeinbildenden öffentlichen Schulen gab.

In der in der sowjetischen Besatzungszone gelegenen Provinz Mark Brandenburg, aus der das Land Brandenburg hervorgegangen ist, regelte Art. 66 der Verfassung vom 6. Februar 1947: "Das Recht der Religionsgemeinschaften auf Erteilung von Religionsunterricht in den Räumen der Schule ist gewährleistet." Nach der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 war der Religionsunterricht Angelegenheit der Religionsgemeinschaften. Bis 1967 fand er noch in den Räumen der Schule statt. Nach 1967 wurde der Religionsunterricht in der Verfassung der DDR nicht mehr erwähnt; die Kirchen nahmen die christliche Unterweisung in kircheneigenen Räumen und außerhalb der Schulzeit vor.

Im Zuge der Wiedervereinigung ist unter anderem das Land Brandenburg gebildet worden. Dieses ist im großem Umfang, aber nicht vollständig, räumlich identisch mit dem historischen Land Brandenburg.

Die Einführung des Grundgesetzes mit Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland bezog sich auch auf Art. 7 und Art. 141 GG. Abweichende Regelungen wurden im Einigungsvertrag nicht getroffen, obwohl die Thematik des Religionsunterrichts während des Prozesses der Wiedervereinigung als Problem gesehen worden war.

Während in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen der Religionsunterricht an den Schulen als ordentliches Lehrfach eingerichtet wurde, hat das Land Brandenburg in dem hier angegriffenen Schulgesetz von einer entsprechenden Regelung abgesehen.

2. Das Vorbringen der Antragsteller und Beschwerdeführer

Die Antragsteller und Beschwerdeführer halten die angegriffenen Vorschriften des Brandenburgischen Schulgesetzes, soweit sie den Religionsunterricht von den ordentlichen Lehrfächern in den öffentlichen Schulen des Landes ausschließen, für verfassungswidrig.

Insbesondere seien sie mit Art. 7 Abs. 3 GG unvereinbar. Nach dem Grundgesetz sei der Staat zwar zur religiösen Neutralität verpflichtet, er öffne aber die öffentlichen Schulen grundsätzlich der Religion.

Gewährleistet seien die organisatorischen Rahmenbedingungen für den Unterricht ebenso wie die formalen, intellektuellen und pädagogischen Standards. Das Grundgesetz garantiere Religionsunterricht in konfessioneller Positivität und Gebundenheit. Dem widerspreche das Brandenburgische Schulgesetz, weil der Religionsunterricht danach nicht ordentliches Lehrfach sei. Das Fach "LER", das an seine Stelle trete, sei kein Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes. Brandenburg könne sich für seine Regelung nicht auf die Ausnahmemöglichkeit für "bekenntnisfreie Schulen" berufen, Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG, da damit vor dem historischen Hintergrund besondere, auf Antrag der Erziehungsberechtigten zu gründende weltanschauliche Schulen gemeint seien. Dem Land Brandenburg komme für seine abweichende Regelung auch nicht Art. 141 GG zugute. Dieser Grundgesetzartikel beziehe sich nicht auf eine räumliche Identität des Landes, in dem 1949 eine von Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG abweichende Regelung gegolten hatte, mit dem heutigen Bundesland, setze vielmehr eine ungebrochene Identität als Rechtssubjekt voraus.

Die Beschwerdeführer, soweit es sich um Schüler und deren Eltern handelt, sehen sich vor allem in ihrem Grundrecht auf Einrichtung von Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach verletzt. Auch die beschwerdeführenden Kirchen leiten aus der Einrichtungsgarantie des Art.7 Abs. 3 Satz 1 GG eine Grundrechtsposition her, die den Staat zur Erteilung von Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach verpflichtet. Zum Teil werden auch Einrichtung, Konzeption und Durchführung des Faches "LER" für verfassungswidrig gehalten. Eine Pflicht zur Teilnahme an diesem Fach, komme allenfalls für die Schüler in Betracht, die nicht am Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach teilnähmen. Die Befreiungsmöglichkeiten von "LER" genügten nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot.

Karlsruhe, den 11. Juni 2001

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 62/2001 vom 11. Juni 2001

Auszug aus dem Brandenburgischen Schulgesetz

§ 9

Zusammenarbeit mit anderen Stellen, öffentlichen Einrichtungen und den Kirchen

(1) ...

(2) Die Kirchen und Religionsgemeinschaften haben das Recht, Schülerinnen und Schüler in den Räumen der Schule nach ihrem Bekenntnis zu unterrichten (Religionsunterricht). Sie übernehmen die Verantwortung dafür, daß der Religionsunterricht entsprechend den für den Schulunterricht geltenden Bestimmungen durchgeführt wird. Der Religionsunterricht wird durch Personen erteilt, die von den Kirchen und Religionsgemeinschaften beauftragt werden. Am Religionsunterricht nehmen Schülerinnen und Schüler teil, deren Eltern eine dahingehende schriftliche Erklärung abgeben. Bei Schülerinnen und Schülern, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, tritt die eigene Erklärung an die Stelle der Erklärung der Eltern. Der Schulträger stellt die Räume unentgeltlich zur Verfügung.

(3) Das für Schule zuständige Mitglied der Landesregierung soll mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften Vereinbarungen über die Durchführung des Religionsunterrichts treffen, insbesondere über die

1. Bedingungen einer Eingliederung des Reli- gionsunterrichts in die Unterrichtszeit,

2. Anrechnung der Erteilung von Religionsun- terricht durch staatliche Lehrkräfte auf die Pflichtstunden,

3. erforderliche Gruppengröße für die Ein- richtung von Religionsunterricht an einer Schule,

4. dem Religionsunterricht gleichgestellten Angebote der Kirchen und Religionsgemein- schaften und

5. staatlichen Zuschüsse.

§ 11

Unterrichtsfächer

(1) ...

(2) Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde soll Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten und ihnen helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstellungen und Sinnangeboten zunehmend eigenständig und urteilsfähig zu orientieren. Das Fach dient der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen über Traditionen philosophischer Ethik und Grundsätzen ethischer Urteilsbildung sowie über Religionen und Weltanschauungen.

(3) Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde wird bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet. Die Eltern werden über Ziele, Inhalte und Formen des Unterrichts in Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde rechtzeitig und umfassend informiert. Gegenüber der religiösen oder weltanschaulichen Gebundenheit von Schülerinnen und Schülern ist Offenheit und Toleranz zu wahren.

(4) Das für Schule zuständige Mitglied der Landesregierung wird ermächtigt, die Ausgestaltung des Faches Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde durch Rechtsverordnung zu regeln. Bezüglich des Stundenvolumens und der Einführung des Faches in den einzelnen Jahrgangsstufen ist rechtzeitig und nach umfassender Information das Benehmen mit dem für Schule zuständigen Ausschuß des Landtages herzustellen.

§ 141

Einführung des Faches Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde

Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde gemäß § 11 Abs. 2 wird ab Schuljahr 1996/97 entsprechend den personellen, sächlichen und schulorganisatorischen Möglichkeiten schrittweise und nach erfolgreicher Erprobung eingeführt. Die staatlichen Schulämter können eine Schülerin oder einen Schüler auf Antrag der Eltern vom Unterricht im Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde befreien, wenn ein wichtiger Grund dies rechtfertigt. Bei Schülerinnen und Schülern, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, tritt der eigene Antrag an die Stelle des Antrages der Eltern. Für die befreiten Schülerinnen und Schüler soll hinreichender Unterricht oder eine angemessene Förderung gewährleistet sein. Das Nähere legt das für Schule zuständige Ministerium durch Verwaltungsvorschriften fest. Dazu ist rechtzeitig und nach umfassender Information das Benehmen mit dem für Schule zuständigen Ausschuß des Landtages herzustellen. Nach Ablauf von fünf Jahren seit Inkrafttreten des Gesetzes werden diese Bestimmungen überprüft".