Bundesverfassungsgericht

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Pofalla gegen Bundestag und Bundestagspräsident erfolglos

Pressemitteilung Nr. 119/2001 vom 17. Dezember 2001

Urteil vom 17. Dezember 2001
2 BvE 2/00

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat durch Urteil vom 17. Dezember 2001 die Anträge des Abgeordneten Pofalla zurückgewiesen. Die Vorgeschichte und der Hintergrund des Verfahrens sind in der Pressemitteilung Nr. 101/2001 vom 29. Oktober 2001 geschildert, die auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts eingesehen werden kann.

Das Gericht stellt fest, dass die Genehmigung des Bundestags zum Vollzug von Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüssen beim Abgeordneten P. diesen nicht in seinen Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 46 Abs. 2 GG verletzt hat. Gleiches gilt für den Umstand, dass der Bundestag es unterlassen hat, gemäß Art. 46 Abs. 4 GG die Aussetzung des Strafverfahrens gegen den Abgeordneten zu verlangen. Den in der ersten Sitzung der Wahlperiode gefassten Beschluss über die generelle Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestags hat das Gericht inhaltlich nicht überprüft. Insoweit war die sechsmonatige Antragsfrist nicht eingehalten.

Im Mittelpunkt der Entscheidung steht die Frage, ob sich aus der Vorschrift über die Aufhebung der Immunität in Art. 46 Abs. 2 GG Rechte des einzelnen Abgeordneten gegenüber dem Bundestag ergeben. Hierzu führt der Senat im Wesentlichen aus, dass die Immunitätsvorschriften vornehmlich das Parlament als Ganzes, nicht den einzelnen Abgeordneten schützen. Der Abgeordnete hat aber aus Art. 46 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG einen Anspruch darauf, dass sich das Parlament bei der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität nicht - den repräsentativen Status des Abgeordneten grob verkennend - von sachfremden, willkürlichen Erwägungen leiten lässt.

Die Immunität findet ihre Rechtfertigung vor allem darin, dass das Volk nur durch das Parlament als Ganzes, d. h. durch die Gesamtheit seiner Mitglieder, angemessen repräsentiert wird. Nach wie vor soll die Immunität aber auch davor schützen, dass missliebige Abgeordnete durch willkürliche strafrechtliche Verfolgung in ihrer parlamentarischen Arbeit behindert werden. Weil nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass sich die Parlamentsmehrheit bei der Aufhebung der Immunität sachfremde Erwägungen der Staatsanwaltschaft zu eigen macht, braucht der Abgeordnete verfassungsgerichtlich durchsetzbaren Schutz. Um diesen Schutz zu gewährleisten, hat er aus Art. 46 Abs. 2 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG einen Anspruch darauf, dass die Entscheidung über die Aufhebung seiner Immunität frei von Willkür getroffen wird.

Bei der Abwägung zwischen den Interessen des Parlaments und denen der Strafverfolgungsbehörden muss der Bundestag die Interessen des Abgeordneten nicht in den Vordergrund rücken. Dessen Anspruch auf willkürfreie Entscheidung ist erst verletzt, wenn das Parlament bei seiner Entscheidung den verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten in grundlegender Weise verkannt hat. Wenn vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann, dass das Strafverfahren gegen den Abgeordneten aus sachfremden, insbesondere politischen Motiven betrieben wird, darf der Bundestag die Immunität nicht aufheben. Mehr als die Frage, ob durch eine bewusst sachfremde Strafverfolgung die repräsentative Zusammensetzung des Parlaments verändert wird, braucht er aber nicht zu prüfen. Insbesondere muss er nicht überprüfen, welche nachteiligen Folgen die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten für dessen Position bei einer Landtagswahl oder bei der Übernahme sonstiger politischer Ämter entfaltet. Der Schutz des Abgeordneten besteht nur im Hinblick auf die Wahrnehmung seines Bundestagsmandats. Die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Strafverfolgungsmaßnahmen darf der Bundestag im Übrigen den Gerichten überlassen.

Nach diesen Maßstäben ist die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten P. nicht zu beanstanden. Für den Verdacht, die Durchsuchungen könnten politisch motiviert sein, bestanden im Zeitpunkt der Bundestagsentscheidung keine augenfälligen Anhaltspunkte. Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Genehmigung der Durchsuchung war nicht offensichtlich unschlüssig. Eine Überprüfung der einzelnen Zahlungsvorgänge - die Begründung des Landgerichts umfasst 15 Seiten - ist ebenso wenig Aufgabe des Bundestages wie die strafrechtliche Bewertung der Vorwürfe im Einzelnen. Die Durchsuchung bei dem Abgeordneten war auch nicht offensichtlich unverhältnismäßig. Eine Rückfrage bei ihm hätte den Durchsuchungserfolg ebenso gefährdet wie die Gewährung rechtlichen Gehörs durch den Bundestagsausschuss. Der Umstand, dass P. als "Schattenminister" für die kurze Zeit später stattfindende Landtagswahl galt, war zwar Anlass, besonders sensibel für die Frage einer politisch motivierten Einflussnahme auf die Strafverfolgung zu sein. Für sich genommen reichte dieser Umstand aber nicht aus, um das Strafverfahren als willkürlich gelten zu lassen; andere Anhaltspunkte lagen nicht vor.

Der Bundestag war auch nicht verpflichtet, nach der durchgeführten Durchsuchung beim Abgeordneten die Aussetzung des Strafverfahrens gemäß Art. 46 Abs. 4 GG zu verlangen. Insofern gelten die gleichen Maßstäbe; das Parlament ist gegenüber dem Abgeordneten lediglich zu einer willkürfreien Entscheidung verpflichtet. Die Tatsache, dass der Abgeordnete selbst auf einer Pressekonferenz mitgeteilt hat, er habe im Gespräch mit der Staatsanwaltschaft die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ausgeräumt, musste den Bundestag nicht zum Tätigwerden veranlassen. Er durfte insoweit die juristische Bewertung weiter der Staatsanwaltschaft bzw. den Gerichten überlassen. Im Übrigen hat der Abgeordnete selbst seine Anhörung vor dem Bundestagsausschuss nicht beantragt. Die Aufklärung eines Fehlverhaltens der Justizbehörden des Landes Nordrhein-Westfalen war nicht Aufgabe des Bundestags.

Karlsruhe, den 17. Dezember 2001