Bundesverfassungsgericht

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Zu Blockadeaktionen durch Errichtung physischer Barrieren

Pressemitteilung Nr. 120/2001 vom 19. Dezember 2001

Beschluss vom 24. Oktober 2001
1 BvR 1190/90

1. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich erneut mit der Strafbarkeit wegen Nötigung auf Grund der Teilnahme an Blockadeaktionen befasst. Dem Beschluss vom 24. Oktober 2001 liegt zum einen eine im Jahr 1986 erfolgte Blockade des Baugeländes der Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) Wackersdorf zu Grunde, bei der die Teilnehmer sich mit Metallketten untereinander und an den Bauzaun angekettet hatten. Zum anderen geht es um eine mehrtägige Kfz-Blockade der BAB 5 und des Grenzübergangs Weil am Rhein aus dem Jahre 1990, deren Teilnehmer die Einreise in die Schweiz und ein Gespräch mit dem UN-Flüchtlingskommissar erzwingen wollten.

2. Der Erste Senat hat die Verfassungsbeschwerden gegen die Verurteilungen wegen Nötigung zurückgewiesen. Zur Begründung seines Beschlusses führt der Senat im Wesentlichen aus:

a) Das Gebot der Bestimmtheit der Strafandrohung (Art. 103 Abs. 2 GG) ist nicht verletzt, wenn die Strafgerichte das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in § 240 StGB auf solche Blockadeaktionen anwenden, bei denen die Teilnehmer über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten. Dies war vorliegend der Fall.

b) Die Blockadeaktionen in Wackersdorf waren rechtlich als Versammlungen i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG zu bewerten. Abs. 2 sieht allerdings ausdrücklich vor, dass Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden dürfen. Aufgrund des Versammlungsgesetzes war die Versammlung rechtswidrig, so dass die Polizei die angebrachten Ketten zerschneiden und die Demonstranten aus der Zufahrt entfernen durfte. Eine andere Frage ist, ob an das Verhalten der Beschwerdeführerinnen auch eine strafrechtliche Sanktion nach Maßgabe des § 240 StGB geknüpft werden durfte. Bei der Anwendung der Verwerflichkeitsklausel dieser Strafnorm ist der wertsetzenden Bedeutung des Art. 8 GG ebenso Rechnung zu tragen wie dem in Art. 2 Abs. 1 GG verankerten Gebot schuldangemessenen Strafens. Ob eine Handlung als verwerfliche Nötigung zu bewerten ist, lässt sich ohne Blick auf den mit ihr verfolgten Zweck nicht feststellen. Erfolgt das Verhalten - wie im Fall der Beschwerdeführerinnen - im Schutzbereich des Art. 8 GG, muss die Bestimmung des relevanten Zwecks von der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts geleitet sein. Aus dem Blickwinkel des Art. 8 GG ist hierbei der Kommunikationszweck der Versammlung maßgebend. Insofern kommt es vorliegend zunächst nicht auf die mit der demonstrativen Blockade bewirkte Verhinderung der Zufahrt an. Die Beschwerdeführerinnen wollten mit ihrer Aktion vielmehr zu einer die Öffentlichkeit angehenden, kontrovers diskutierten Frage - der friedlichen Nutzung der Atomkraft - Stellung beziehen. Da vom Selbstbestimmungsrecht der Grundrechtsträger jedoch nicht die Entscheidung umfasst ist, welche Beeinträchtigungen die Träger der kollidierenden Rechtsgüter hinzunehmen haben, werden die näheren Umstände der Demonstration für die Verwerflichkeitsprüfung bedeutsam.

Wichtige Elemente der hiernach gebotenen Abwägung zwischen der Versammlungsfreiheit und den Rechten Dritter sind unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand.

Der Senat stellt fest, dass die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Urteile diesen Maßstäben nicht gerecht werden. Die Gerichte haben Art. 8 GG im Zuge der strafrechtlichen Verwerflichkeitsprüfung zu Unrecht unbeachtet gelassen. Dieser Fehler hat sich jedoch nicht auf das Ergebnis ausgewirkt. Es erscheint nämlich ausgeschlossen, dass die Strafgerichte bei hinreichender Berücksichtigung des Grundrechts eine für die Beschwerdeführerinnen günstigere Entscheidung getroffen hätten, wie der Senat ausführt.

c) Demgegenüber erfolgte die Blockade des Grenzübergangs an der Autobahn nicht im Rahmen einer Versammlung nach Art. 8 GG, da diese Aktion nicht der Kundgebung einer Meinung oder der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen diente. Die Blockadeaktion zielte nach den Feststellungen der Gerichte vielmehr darauf, ein Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar in Genf zu erreichen und dafür die Einreise zu erzwingen. Art. 8 GG schützt die Teilhabe an der Meinungsbildung, nicht aber die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen.

3. Dem Senatsbeschluss sind zwei Sondervoten zu den Verurteilungen aus Anlass der Blockade in Wackersdorf beigefügt. Die Richter Jaeger und Bryde verneinen das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der Gewalt aus § 240 StGB, die Richterin Haas legt dar, dass die Blockade ihrer Auffassung nach gar nicht vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit erfasst war.

Karlsruhe, den 19. Dezember 2001