Bundesverfassungsgericht

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Antrag Hessens im Bund-Länder-Streit "Kernkraftwerk Biblis A" zurückgewiesen

Pressemitteilung Nr. 19/2002 vom 19. Februar 2002

Urteil vom 19. Februar 2002
2 BvG 2/00

Mit Urteil vom heutigen Tag hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts einen Bund-Länder-Streit im Zusammenhang mit der Nachrüstung des Kernkraftwerkes Biblis, Block A , zu Lasten des Landes Hessen entschieden. Die Hessische Landesregierung wollte festgestellt wissen, dass das Bundesumweltministerium durch Erklärungen im sogenannten Atomkonsens in Bezug auf das Atomkraftwerk Biblis A und verschiedene Gespräche mit den RWE gegen Art. 30, 85 GG sowie gegen den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Antrag abgelehnt.

Zur Vorgeschichte des Verfahrens und der Rechtslage wird verwiesen auf die Pressemitteilung Nr. 95/2001 vom 10. Oktober 2001, die auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts abgerufen werden kann.

1. Das Gericht stellt fest, dass der Bund durch die vom Land Hessen monierten Verhandlungen und Schreiben seine Befugnisse im Rahmen der Auftragsverwaltung nicht überschritten hat.

Wie bereits aus der sogenannten "Kalkar II"-Entscheidung folgt, steht dem Land im Rahmen der Auftragsverwaltung nach Art. 85 GG unentziehbar nur die Wahrnehmungskompetenz, d. h. das Handeln und die Verantwortlichkeit nach Außen, zu. Die Sachkompetenz kann der Bund hingegen jederzeit an sich ziehen. Diese Differenzierungen sind in der "Kalkar II"-Entscheidung für die bundesaufsichtliche Weisung entwickelt worden. Der Senat hat sie jetzt zur Beurteilung des Handelns gegenüber Dritten fortentwickelt. Auch insoweit kann der Bund grundsätzlich alle Aktivitäten zur Vorbereitung und Ausübung seines Weisungsrechts entfalten, die er für erforderlich hält, soweit er dadurch nicht die Wahrnehmungskompetenz der Länder verletzt. Bestandteil derartiger Weisungsvorbereitungen können auch unmittelbare Kontakte zu und informelle Absprachen mit Dritten sein. Der Bund hat allerdings auch im Bereich des informellen Handelns kein Selbsteintrittsrecht; dem Land verbleibt stets die gesetzesvollziehende rechtsverbindliche Entscheidung mit Außenwirkung, etwa in Gestalt eines Verwaltungsakts oder eines öffentlich-rechtlichen Vertrags. Gleichermaßen darf der Bund nicht durch informales Handeln quasi eine Schattenverwaltung aufbauen und etwa für alle Länder den Vollzug des Atomgesetzes generell durch eigene Kontakte nach außen regulieren. Auch im Bereich des informalen Handels muss die Kompetenzordnung des GG gewahrt bleiben, damit keine verfassungsrechtliche Doppelzuständigkeit entstehen kann. Aus diesem Grunde ist es erforderlich, dass der Bund das Ansichziehen der Sachkompetenz deutlich zum Ausdruck bringt.

Ist dies jedoch geschehen, kann der Bund sich in jeder von ihm für zweckmäßig gehaltenen Weise Informationen beschaffen, die er zur Ausübung seiner Sachkompetenz zu brauchen meint. Er ist dabei nicht an die Mitwirkung des Landes gebunden, dies würde seine Geschäftsleitungsbefugnis und Direktionsmacht beschränken. Die Wahrnehmungskompetenz des Landes wird erst dann verletzt, wenn der Bund nach außen gegenüber Dritten, quasi anstelle der zuständigen Landesbehörde rechtsverbindlich tätig wird oder Erklärungen abgibt, die einer rechtsverbindlichen Entscheidung gleichkommen. So liegt der Fall hier nicht.

Das Bundesumweltministerium hat durch seine Weisung vom 29. Oktober 1999 für den Empfänger unmissverständlich gemacht, das es seine Sachkompetenz in Anspruch nehmen will. Dies kann schon nach der Aufforderung, Genehmigungen erst nach Zustimmung durch das BMU zu erteilen, keinem Zweifel unterliegen. Der "Atomkonsens" vom 14. Juni 2000 und der damit angestrebte Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist eine reine Bundesangelegenheit. Das Land hat insoweit keine Mitwirkungsrechte.

Auch die sich auf Biblis beziehende Anlage 2 zu dieser Vereinbarung fällt in die vom Bund in Anspruch genommene Sachkompetenz. Ihr materieller Aussagewert ist gering; es handelt sich um typische und politisch übliche Absichtserklärungen, an denen kein vernünftig und verantwortlich Handelnder ein "Tau festbinden" würde. Schließlich hat die Erklärung vom 29. August 2000 gegenüber RWE keinen anderen als einen politischen und unverbindlichen Inhalt, wie der Senat ausführt. Das Land Hessen hat nicht dargelegt, dass seine Wahrnehmungskompetenz oder Entscheidungszuständigkeit über Genehmigungsanträge hinsichtlich Biblis A gebunden wäre.

2. Auch die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten ist durch die angegriffenen Maßnahmen des Bundesumweltministeriums nicht verletzt worden. Im Gegensatz zur "Kalkar II"-Entscheidung, in der der Senat Ausführungen zum bundesfreundlichen Verhalten im Zusammenhang mit einer bundesaufsichtlichen Weisung gemacht hat, geht es hier um die der Weisung vorgelagerte Informationsbeschaffung. Ob der Bund anschließend von seinem Weisungsrecht Gebrauch macht, entscheidet er selbst. In diesem Fall ist eine Weisung unterblieben.

Dennoch können auch beim informalen Handeln, insbesondere im Kontakt zu Dritten Beeinträchtigungen der Wahrnehmungskompetenz des Landes entstehen, ohne dass dieses sich dagegen wehren kann. Ob das der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen. Hier ist die Wahrnehmungskompetenz des Landes Hessen ausschließlich auf das Kernkraftwerk Biblis A bezogen. Der "Atomkonsens" zwischen der Bundesregierung und verschiedenen Elektrizitätsunternehmen überlagert dieses Verwaltungsverfahren. "Atomkonsens" wie auch das Ziel des Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie stehen in keinerlei Zusammenhang mit der Bundesauftragsverwaltung; das Land hat insoweit keine Rechtsposition. Eine Rechtsposition des Landes Hessen besteht lediglich hinsichtlich der Nachrüstung des Kernkraftwerks Biblis A. Nur insoweit können Informations- und Beteiligungsrechte aus der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten geltend gemacht werden. Mögen auch die Sphären von Bund und Land bei einer Konstellation wie dieser nicht eindeutig voneinander abgrenzbar sein, lassen sich doch bestimmte verfassungsrechtliche Eckpunkte feststellen: Zieht der Bund durch eindeutiges Verhalten die Sachkompetenz an sich, ist das Land zugleich informiert. Darüber hinaus braucht der Bund das Land nicht zu beteiligen.

Kommt es zu einer bundesaufsichtlichen Weisung, genießt das Land wirksamen Schutz durch die prozeduralen Anforderungen vor Erteilung einer Weisung, wie sie in der "Kalkar II"-Entscheidung dargestellt sind. Kommt es zu keiner Weisung und verbleibt das informale Handeln des Bundes im Vorfeld, muss es durch die Sachkompetenz gedeckt sein.

Der Bund kann deshalb alle die informalen Handlungen und Maßnahmen ohne Beteiligung des Landes vornehmen, die ihm auch zur Vorbereitung einer Weisung zur Verfügung stünden. Ist das informale Handeln des Bundes von dem konkreten Verwaltungsverfahren so weit entfernt wie hier, muss das Land weder allgemein noch über Einzelschritte informiert werden. Das Land Hessen war aufgrund der diversen Schreiben des Bundesumweltministeriums und der vorangegangenen Presseberichte in der Lage, fortwährend seine Auffassung über die Nachrüstung des Kernkraftwerks Biblis A in geeigneter Weise gegenüber dem Bund geltend zu machen und in den Entscheidungsfindungsprozess einzubringen.

3. Die Richter Di Fabio und Mellinghoff haben dem Urteil eine abweichende Meinung beigefügt. Sie sind der Auffassung, dass die Bundesregierung durch die in Rede stehenden Maßnahmen - insbesondere durch das Aushandeln des erforderlichen Nachrüstprogramms unter Ausschluss der zuständigen Landesbehörde - in die unentziehbare Wahrnehmungskompetenz eingegriffen und dadurch gegen Art. 30, 85 GG verstoßen hat. Zumindest liegt nach Auffassung dieser Richter ein Verstoß gegen den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens durch die Bundesregierung vor, weil sie die hessische Landesregierung nicht angemessen und rechtzeitig über ihre Vorhaben informiert und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Die Verfassungsverstöße sind nicht dadurch gerechtfertigt, dass es sich bei dem "Atomkonsens" um die Vorbereitung einer Atomgesetznovelle gehandelt hat oder dass das verfassungsrechtliche Binnenverhältnis zwischen Bund und Land durch die Vorbereitung des Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie überlagert wird, wie diese Richter darlegen.

Karlsruhe, den 19. Februar 2002