Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Zur Berechnung des nachehelichen Ehegattenunterhalts

Pressemitteilung Nr. 26/2002 vom 28. Februar 2002

Beschluss vom 05. Februar 2002
1 BvR 105/95

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 5. Februar 2002 grundsätzliche Feststellungen zur Berechnung des nachehelichen Unterhaltsanspruchs getroffen. Ebenso wie der BGH in seiner neuen Unterhaltsrechtsprechung erteilt das Bundesverfassungsgericht der sogenannten "Anrechnungsmethode" aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Absage.

1. Hintergrund und Rechtslage:

Besteht zwischen geschiedenen Ehegatten ein Unterhaltsanspruch, so sind für dessen Berechnung die ehelichen Lebensverhältnisse maßgeblich. Grundsätzlich steht jedem Ehegatten rund die Hälfte des Einkommens zu, welches die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt hat. Die Gerichte haben dabei Einkommensveränderungen nach der Scheidung berücksichtigt, sofern diese sich als Fortführung der die Ehe bereits prägenden Verhältnisse darstellten (z. B. Gehaltserhöhung). Waren beide Ehegatten während der Ehe berufstätig, ist in der Rechtssprechung stets die sogenannte Differenzmethode gewählt worden. Nach dieser erhält der geringer verdienende Ehegatte die Hälfte der Differenz seines Einkommens zu dem des höher verdienenden Ehegatten.Verdiente der Ehemann z. B. 3000 DM, die Ehefrau 1000 DM, so steht nach der Differenzmethode der Frau ein Unterhaltsanspruch von 1000 DM zu, so dass jeder Ehegatte mit 2000 DM die Hälfte des gemeinsamen Einkommens zur Verfügung hat.

Jahrzehntelange Meinungsverschiedenheiten herrschten jedoch in der Literatur über die Frage, wie das Einkommen des Unterhaltsberechtigten zu berücksichten ist, wenn dieser erst nach der Scheidung eine Berufstätigkeit (wieder) aufgenommen oder etwa eine Teilzeitarbeit aufgestockt hatte. Die Befürworter der sogenannten Anrechnungsmethode gingen davon aus, dass derartiges Einkommen die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt hat und deshalb bei der Errechnung des Familieneinkommens nicht zu berücksichtigen ist. Es wurde vielmehr allein auf den nach dem Familieneinkommen errechneten Unterhaltsanspruch bedarfsmindernd angerechnet. Erzielte also der Ehemann während der Ehe ein Einkommen von 3000 DM und nahm die geschiedene Ehefrau nach der Ehe eine Berufstätigkeit für 1000 DM Entlohnung auf, errechnet sich nach dieser Methode ein Unterhaltsbedarf von 1500 DM, auf den das eigene Einkommen der Frau in Höhe von 1000 DM angerechnet wird. Ihr Unterhaltsanspruch gegen den Ehemann beläuft sich nach dieser Berechnung lediglich auf 500 DM.

Der Bundesgerichtshof hatte sich in den frühen achtziger Jahren bei dieser Konstellation für die Anrechnungsmethode entschieden. Dem sind die Obergerichte bis 1999 gefolgt. Im Juni 2001 hat der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung aufgegeben.

2. Die Ausgangsverfahren:

Dem Bundesverfassungsgericht lagen drei Verfassungsbeschwerden (Vb) geschiedener Ehefrauen vor, die sich während ihrer Ehen zumindest zeitweilig ausschließlich der Kinderbetreuung und Haushaltsführung gewidmet hatten. Soweit sie nach der Scheidung eine Berufstätigkeit begonnen bzw. eine bereits während der Ehe ausgeübte Teilzeittätigkeit ausgeweitet hatten, rechneten die Familiengerichte das daraus erzielte Einkommen im Wege der Anrechnungsmethode bedarfsmindernd auf den Unterhaltsanspruch gegen die jeweiligen Ex-Ehemänner an. Zur Begründung stellten die Gerichte im Wesentlichen darauf ab, die Berufstätigkeit und das Einkommen der Beschwerdeführerinnen (Bf) habe die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass die Bf lediglich aus trennungsbedingten Gründen (wieder) berufstätig geworden seien. Das erzielte Einkommen sei dementsprechend anspruchsmindernd nach der Anrechnungsmethode zu errechnen.

3. Der Erste Senat hat festgestellt, dass die angefochtenen Gerichtsentscheidungen die Bf in ihren Grundrechten aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 2 GG verletzen. Zur Begründung führt der Senat im Wesentlichen aus:

Art. 6 Abs. 1 i. V. m. 3 Abs. 2 GG schützt die Ehe in der Gestalt, die sie aufgrund selbstverantwortlicher Entscheidung der Ehegatten findet. Dazu gehört, dass die Ehegatten selbst bestimmen, wie sie Kindererziehung und Haushaltsführung in ihrer Ehe aufteilen. Dem gleichen Recht und der gleichen Verantwortung der Ehegatten entspricht es, die Leistungen, die jeweils im Rahmen der gemeinsamen Arbeits- und Aufgabenzuweisung erbracht werden, als gleichwertig zu betrachten. Deshalb ist nicht die Höhe des ökonomischen Werts der eingebrachten Leistung ausschlaggebend; Kindererziehung und Haushaltsführung stehen vielmehr gleichwertig neben der Beschaffung des Einkommens. Daraus folgt der Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten während und nach der Ehe. Dies spiegelt sich in den gesetzlichen Regelungen zu Versorgungsausgleich und Zugewinn wider, es gilt auch für einen Unterhaltsanspruch. Es entspricht Art. 6 GG, diesen grundsätzlich an der Summe der Einkünfte der Eheleute zu orientieren, so dass in der Regel rund die Hälfte der gemeinsamen Einkünfte dem Ehegatten zur Verfügung stehen, der nach der Scheidung kein eigenes Einkommen hat.

In der Unterhaltsrechtsprechung wird grundsätzlich auch der Einkommenszuwachs nach der Ehe berücksichtigt, wenn dieser sich als normaler Verlauf von Einkommen und beruflicher Entwicklung, wie sie während der Ehe bereits angelegt waren, darstellt. Auch dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn dabei der aus der Gleichwertigkeit der ehelichen Unterhaltsbeiträge erwachsene Anspruch im Prinzip gewahrt bleibt.

Diesen Grundsätzen werden die angefochtenen Urteile nicht gerecht, weil sie zwar Einkommensveränderungen des Unterhaltsverpflichteten bei der Berechnung des Familieneinkommens berücksichtigen, nicht aber jene beim Unterhaltsberechtigten, der eine Arbeit aufnimmt oder intensiviert. Die Anrechnungsmethode führt in diesen Fällen dazu, dass der Unterhaltsverpflichtete einseitig entlastet wird. Er darf mehr behalten als ihm während der Ehe zur Verfügung stand. Die Einkünfte des Unterhaltsberechtigten mindern allein dessen Bedürftigkeit, kommen also im Ergebnis allein dem Unterhaltsverpflichteten zugute. Dieses Ergebnis entspricht nicht der Gleichwertigkeit der Leistung während der Ehe. Auch die nicht-monetäre Leistung durch Haushaltsführung und Kindererziehung hat das eheliche Leben geprägt. Wird diese durch eine vergütete abgelöst und die Vergütung nicht der ehelichen Einkommenssituation zugerechnet, führt dies im nachhinein zur Missachtung des Wertes der Familienarbeit.

Das nach der Ehe erzielte Einkommen des Unterhaltsberechtigten kann nicht erst dann in die Berechnung der ehelichen Lebensverhältnisse einbezogen werden, wenn diese Erwerbstätigkeit auf einem gemeinsamen Lebensplan der Ehegatten beruht. Eine solche Betrachtungsweise verletzt Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG. Entscheiden Eheleute, dass einer von ihnen sich ausschließlich der Familienarbeit widmet, so verzichtet dieser auch zugunsten des anderen auf die Erzielung eigenen Einkommens. Die Begründung für diesen Verzicht liegt in der Ehe. Endet diese durch Scheidung, wird der ehelichen Vereinbarung der Grund entzogen. Die Anrechnungsmethode würde bedeuten, dem Partner, der die Familienarbeit geleistet hat, alleine die finanziellen Nachteile zuzuweisen, die aufgrund der gemeinsamen Entscheidung beider Ehegatten diese gemeinsam zu tragen haben. Sie führt zu einer Schlechterstellung des Kinderbetreuung und Hausarbeit Übernehmenden gegenüber dem Ehepartner, der Erwerbseinkommen erzielt.

Im Übrigen entspricht die von den Gerichten bei der Zugrundelegung der Anrechnungsmethode unterstellte Endgültigkeit einer einmal gemeinsam von den Ehegatten getroffenen Arbeitsteilung nicht mehr der Ehewirklichkeit. Seit den siebziger Jahren hat sich das Ausbildungs-, Erwerbs- und Familiengründungsverhalten von Frauen kontinuierlich gewandelt. Die meisten Frauen gehen heute erst nach Abschluss einer Berufsausbildung und nach einigen Berufsjahren eine Ehe ein und nehmen spätestens nach dem Ende der Kinderbetreuungsphase wieder eine Berufstätigkeit auf. Die noch in den fünfziger und sechziger Jahren dominierende Hausfrauenehe ist einem nunmehr vorherrschenden Ehebild gewichen, dass auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie setzt, bei dem nur noch in der Phase aktiver Elternschaft der Typus der Versorgerehe weitgehend erhalten geblieben ist. Deshalb ist davon auszugehen, dass der zeitweilige Verzicht eines Ehegatten auf Erwerbstätigkeit, um die Aufgabe der Kindererziehung zu übernehmen, ebenso die ehelichen Verhältnisse prägt wie die vorher ausgeübte Berufstätigkeit und die danach wieder aufgenommene oder angestrebte Erwerbstätigkeit. Dies verkennen die angegriffenen Entscheidungen, wenn sie allein auf den Zeitpunkt der Scheidung abstellen, vor dem eine Erwerbstätigkeit wieder aufgenommen werden muss, um bei der unterhaltsrechtlichen Bestimmung des die ehelichen Verhältnisse prägenden Gesamteinkommens Berücksichtigung zu finden.

Wie der Senat ausführt, obliegt es den Fachgerichten, die gebotene Gleichwertigkeit von geleisteter Familienarbeit und ehelichen Einkünften in Auslegung des Begriffs der ehelichen Lebensverhältnisse bei der nachehelichen Unterhaltsbemessung zur Geltung zu bringen. Der BGH hat mit seiner Entscheidung vom 13. Juni 2001 die neue Berufstätigkeit des vorher nicht erwerbstätigen Ehegatten als ein "Surrogat" der bisher geleisteten Haushaltsführung und Kinderbetreuung angesehen. Damit hat er einen möglichen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Weg aufgezeigt, den Wert, der der Ehe aus der Familienarbeit erwächst, unterhaltsrechtlich zum Tragen zu bringen.

Karlsruhe, den 28. Februar 2002